LATEINAMERIKA IM SUPERWAHLJAHR 2018 – Zwischen Rechtsruck und Paradigmenwechsel
Eine Analyse des Lateinamerika-Experten Leo Gabriel
Es ist fast ein Vierteljahrhundert her, dass in der Mehrzahl der Länder auf dem lateinamerikanischen Kontinent innerhalb eines Jahres gewählt wurde. Damals, ein paar Jahre nach der so genannten „Wende“ in Europa, wurde der in die Amtszeit von George Bush Senior fallende Aufstieg der Rechten durch die Abwahl der Sandinisten eingeleitet. Heute, da sich in Mexiko, El Salvador, Costa Rica, Kolumbien, Venezuela, Brasilien und Paraguay linksliberale und rechtsextreme KandidatInnen auf Präsidentschafts- oder Parlamentswahlen (meist sogar beides) vorbereiten, scheint die Lage ähnlich zu sein.
Bereits in den beiden Vorjahren haben in Argentinien mit Mauricio Macri, in Chile mit Sebastián Piñera, in Peru mit Pedro Pablo Kuczynski, in Guatemala mit Jimmy Morales und mit Juan Orlando Hernández in Honduras dem in der letzten Dekade erfolgten, kometenhaften Aufstieg der Phalanx linker Präsidenten wie Hugo Chavez (Venezuela), Daniel Ortega (Nicaragua), Salvador Sanchez Ceren (El Salvador), Rafael Correa (Ecuador), Evo Morales (Bolivien), Ricardo Lugo (Paraguay), Pepe Mujica (Uruguay) und Christina Kirchner (Argentinien) durchbrochen oder zumindest ein ultrakonservatives Gegengewicht entgegengesetzt. Ist damit das Ende der roten Fahnenstange erreicht, von der Fidel Castro einmal behauptet hatte, sie stelle die „zweite Unabhängigkeit“ (la segunda independencia) dar?
Mexiko: Hoffnung auf Wahlen ohne Betrug
Diese Frage ist so leicht nicht zu beantworten. Denn die beiden Giganten des lateinamerikanischen Kontinents, Mexiko und Brasilien, befinden sich gerade jetzt in einem Wahlkampf der kontroversieller nicht sein könnte. In Mexiko liegt bei den für den 6. Juni anberaumten Wahlen Andres Manuel López Obrador (AMLO), der Kandidat der linken MORENA-Partei, der bereits zum dritten Mal antritt, den Meinungsumfragen zufolge um mehr als 15 Prozentpunkte an der Spitze, gefolgt von Ricardo Anaya, der sowohl die rechtskonservative Partido de Acción Nacional (PAN) als auch die ehemals sozialdemokratisch orientierte Partido de la Revolución Democrática (PRD) repräsentiert. Weit abgeschlagen ist den Umfragen zufolge José Antonio Meade, der Kandidat der historischen Partido Revolucionario Institucional (PRI , aus der der völlig diskreditierte gegenwärtige Präsident Enrique Peña Nieto hervorgegangen ist.
„Wenn alles mit rechten Dingen zuginge müsste AMLO gewinnen“, sagen die allermeisten MexikanerInnen. Doch das ist gerade das Problem in einem Land, dem nicht zu Unrecht die Weltmeisterschaft in der Kunst des Wahlbetrugs nachgesagt wird. So hat die Wahl von Juan Orlando Hernandez in Honduras im November vergangenen Jahres, bei der nach der Auszählung von über 50 Prozent der Stimmen plötzlich die Computer ausgefallen sind, Erinnerungen an das Jahr 1988 in Mexiko geweckt, bei der dem Kandidaten der Linken, Cuauhtemoc Cárdenas, der Sieg auf die gleiche Weise aberkannt wurde. Aber auch der Mord an dem linksliberalen Luis Donaldo Colosio im Jahr 1994, der bis heute noch nicht aufgeklärt ist, hat tiefe Spuren im Bewusstsein der mexikanischen WählerInnen hinterlassen.
Brasilien: Rechtsextremer Kandidat sorgt vor
Ein Konflikt ganz anderer Art zeichnet sich bei den im Oktober anberaumten Wahlen in Brasilien ab, wo es der politischen Rechten im Mai 2016 gelungen war, die amtierende Präsidentin Dilma Roussef in einem Staatsstreich ähnlichen Impeachment-Verfahren abzusetzen und durch den der Korruption verdächtigen Michel Temer von der Regierungspartei Demokratische Bewegung Brasiliens (PMDB) zu ersetzen. Nachdem bekannt wurde, dass der Vorgänger Roussefs, der allseits beliebte Gewerkschaftler Luiz Inácio „Lula“ da Silva, mit ebenso hohen Werten wie Manuel Lopez Obrador in Mexiko an der Spitze der Meinungsumfragen steht, wurde er von einem Gericht in zweiter Instanz wegen eines unbewiesenen Hauskaufs, den ihm angeblich der Baulöwe Odebrecht zugeschanzt hätte, zu 12 Jahren Haft verurteilt.
Das ist einer der Gründe, warum der Wahlkampf zurzeit nahtlos in einen Straßenkampf überzugehen scheint. So hat der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro dafür gesorgt, dass der Gouverneur von Río de Janeiro nach einem sehr regierungskritischen pro-Lula Karneval über diese Weltstadt den Ausnahmezustand verhängt. Aber auch die ehemalige Umweltministerin Marina da Silva, die sich schon vor Jahren von Lula getrennt hatte, kann sich Chancen ausrechnen, das höchste Amt im Staat zu erlangen.
Kolumbien: Spannungen erwartet
Ähnliche Spannungen zeichnen sich auch in Kolumbien ab, wo Iván Duque, ein enger Vertrauter des Rechtspopulisten und Kriegshetzers, des ehemalige Langzeitpräsidenten Alvaro Uribe auf die linksliberale Koalition unter Führung von Gustavo Petro stößt, auf den Anfang März ein Anschlag verübt wurde.
Costa Rica: Stichwahl im April
Die Liste der konfrontativen Wahlkämpfe könnte beliebig fortgesetzt werden: etwa in Costa Rica, wo sich der bis vor kurzem unbekannte Fabricio Alvarado Muñoz in die erste Reihe katapultiert hat. Vier Jahre lang vertrat der evangelikale Prediger als einziger Abgeordneter die rechtsevangelikalen Splitterpartei Restauración Nacional (RN) im Parlament, wo er gegen Homosexuellenrechte, Abtreibung und vermeintliche „Genderideologie“ in den Bildungsplänen agitierte. Als Präsidentschaftskandidat gewann er am 4. Februar nun mit 24,9 Prozent der Stimmen den ersten Wahlgang und wird im April in der Stichwahl gegen den Kandidaten der sozialdemokratischen Regierungspartei PAC, Carlos Alvarado Quesada, der mit 21,6 Prozent den zweiten Platz belegte, antreten.
Paraguay: Mögliche Linkswende
Dass aber auch ein Comeback der Linksliberalen möglich ist, wenn sie aufhören, sich untereinander zu streiten, zeigen die Wahlprognosen in Paraguay, wo eine breite Allianz zwischen den Liberalen und zwei linken Gruppierungen, denen auch der ehemalige Präsident und Bischof Fernando Lugo angehört, wahrscheinlich die alteingesessene rechtsextreme Colorado-Partei besiegen wird, die Lugo vor einigen Jahren abgesetzt hatte.
El Salvador: Linke geschwächt
Dafür haben im zentralamerikanischen El Salvador die seit 2015 im Amt befindlichen ex-Guerrilleros von der Frente Farabundo Martí de Liberación Nacional (FMLN) bei den letzten Parlamentswahlen gegenüber der rechtsradikalen ARENA-Partei am 4. März eine empfindliche Niederlage erlitten – nicht zuletzt deshalb, weil sie sich allzu sehr auf ihren Propagandaapparat verlassen haben und wenige Erfolge auf dem Gebiet der Wirtschaft (Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und des Banden(un)wesens) nachweisen konnten.
Venezuela: Am Rande der Eskalation
Das gleiche Schicksal könnte auch den venezolanischen Staatspräsidenten Nicolas Maduro treffen, der im Unterschied zu seinem berühmten Vorgänger Hugo Chavez die seit zwei Jahren überhand nehmende Wirtschaftskrise nicht in den Griff bekommt; bloß, dass sich die rechtsradikale Opposition insoweit verschätzt haben dürfte, dass sie mit ihrem Wirtschaftsboykott und einer sich ausufernden Gewaltwelle gegen Maduro auch sich selbst ins eigene Fleisch geschnitten haben und gerade jetzt, wo es darum ginge, in Bezug auf die am 20. Mai stattfindenden Wahlen vor der notleidenden Bevölkerung ein Bild der Einheit zu zeigen, heillos zerstritten sind. Das wiederum befeuert die Gerüchteküche, der zufolge es Donald Trump darauf abgesehen hätte, eine direkte militärische Intervention zu wagen, die jedoch angesichts der Unterstützung der venezolanischen Armee für den Nachfolger von Hugo Chavez wenig aussichtsreich wäre.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es je nach Land, durchaus unterschiedliche Szenarien gibt, welche noch keine Einschätzung, was das daraus resultierende Gesamtbild betrifft, zulassen. Der Teufel liegt im Detail – oder am Ende doch, wie schon so oft in der Geschichte Lateinamerikas, im Weißen Haus in Washington?
Für Interviews und weitere Infos:
Mexiko-Zentralamerika, Brasilien und Venezuela – Leo Gabriel: lgabriel@gmx.net
Kolumbien – Ralf Leonhard: ralf.leonhard@aon.at
Guatemala – Hermann Klosius: igla@aon.at
Paraguay – Georg Grünberg: grunberg@lai.at
Nachrichten und Analysen zu Lateinamerika finden Sie z.B. auch unter: https://amerika21.de/
Leo Gabriel ist Lateinamerika-Experte, freier Journalist beim ORF und befindet sich derzeit beim Sozialforum 2018 in Salvador de Bahia.