Venezuela in der Zerreissprobe
Venezuela in der Zerreissprobe: Woran der Schlüsselstein der linken Architektur Lateinamerikas zerbricht
schildert Leo Gabriel nach einem Lokalaugenschein.
Die Auffassung der meisten indigenen Völker, dass sich die Geschichte in spiral-förmigen Zyklen wiederholt scheint sich ausgerechnet in jenem Land zu bestätigen, das in den letzten 15 Jahren den Schlüsselstein in der Architektur der Transformation auf dem amerikanischen Kontinent gebildet hat. Wie einst Hugo Chávez muss auch der gegenwärtig im Amt befindliche Präsident Venezuelas, Nicolás Maduro, gegen seine Widersacher in den USA, aber auch im eigenen Land kämpfen. Der Ausgang ist ungewiss.
Hugo Chávez und die Flucht nach vorne
Im Unterschied zu Lulas Brasilien und dem Argentinien der Kirchner-Ära musste Hugo Chávez bereits vom ersten Tag seiner Amtsübernahme im Februar 1999 an gegen einen zwar ziemlich inhomogenen, aber dafür umso aggressiveren „historischen Block“ der bürgerlichen Eliten ankämpfen, der bei den Wahlen regelmäßig mit etwa 40 Prozent der abgegebenen Stimmen rechnen konnte. Und als Chávez zwei Jahre nach der Verabschiedung der Verfassung der Bolivarischen Revolution den Zugriff auf die staatliche Erdölgesellschaft PDVSA wagte, wäre er im April 2002 bei einem militärischen Putschversuch beinahe unter die von den USA aus manipulierten Räder gekommen.
Seit damals verging kein Jahr, in dem die zerklüftete Opposition nicht den Versuch unternommen hätte, dem allseits beliebten Volkstribunen den Garaus zu machen – entweder durch Wahlen, Hetzkampagnen der Massenmedien oder indem sie die Auslieferung von lebensnotwendigen Gütern, die zum allergrößten Teil importiert werden mussten, einfach boykottierten, um die Preise in die Höhe zu treiben .
Wie auch immer: in den 13 Jahren seiner Präsidentschaft gelang es der Opposition in ihrem Kampf um die Macht (mit Ausnahme der 24 Stunden des gescheiterten Putschversuchs 2002) kein einziges Mal, über Chávez die Oberhand zu gewinnen. Im Gegenteil: je intensiver die Auseinandersetzung, desto mehr trat Chávez die Flucht nach vorne an.
Umso schmerzlicher war es für alle seine MitstreiterInnen im In- und Ausland, sich von ihm im März 2013 verabschieden zu müssen, als ein längeres Krebsleiden seinem Leben ein Ende bereitete. Noch zu Lebzeiten bestimmte Chávez den großgewachsenen Gewerkschaftsführer und späteren Außenminister Nicolás Maduro, der ihm Zeit seines Lebens ergeben war, zu seinem Nachfolger. Aber es war auch die Stunde, in der die nach wie vor zerstrittene Opposition neuen Mut fasste und durch teilweise gewalttätige Demonstrationen (die so genannten Guarimbas) versuchte, ihn zum Abdanken zu zwingen.
Die Defensive des Nicolás Maduro
Die Opposition sah ihre Stunde gekommen, als die in der MUD (Mesa de Unidad Democrática) zusammengeschlossenen Parteien bei den Parlamentswahlen im Dezember 2015 eine satte Stimmenmehrheit auf sich vereinigen konnte – sehr zur Überraschung der von Chávez gegründeten PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela ), die fest damit gerechnet hatte, weiterhin zu regieren. Anstelle jedoch – wie es Hugo Chávez gemacht hätte – die Bolivarische Revolution zu vertiefen und den verlorenen Boden an der Basis durch gemeinwirtschaftliche Projekte wiederzugewinnen, versteifte sich Maduro auf den Ausverkauf des Erdöls und die Planung einiger Megaprojekte wie das Kraftwerk am rohstoffreichen Orinoco-Delta. Aber auch die streng gehandhabte Devisenkontrolle, die den Schwarzmarkt in astronomische Höhen trieb, war eher dazu angetan, die Korruption zu fördern und den kapitalistischen Privatunternehmern in die Hände zu spielen, als die in Krise geratene Staatswirtschaft zu konsolidieren.
Sehr im Allgemeinen kann gesagt werden, dass es ein schwerer Fehler Maduros war, so lange zugewartet zu haben, bevor er irgendwelche reformorientierte wirtschaftspolitischen Schritte setzte und dass dann, wenn er sie setzte – wie z.B. durch die Einführung der an den Erdölpreis gebundenen Kryptowährung PETRO im Vorjahr -, es meist bereits zu spät war. Das Paradoxe an der Situation war und ist, dass während Venezuela durch abrupte monetaristische Entscheidungen immer mehr in das Fahrwasser der neoliberalen Gegner der „Chavisten“ geriet, sich die politische Situation zusehends polarisierte. Denn die Opposition dachte nicht im Geringsten daran, die durch Boykotte und Streikdrohungen der Unternehmerschaft aufgestauten Wogen zu glätten.
Der lange Arm Washingtons
Ob es die von der katholischen Bischofskonferenz und dem Nuntius vermittelten Verhandlungen im Jahr 2017 waren oder die in der Dominikanischen Republik abgehaltenen Dialogrunden: sie alle endeten damit, dass sich die Vertreter der Opposition vom Verhandlungstisch erhoben – vermutlich aufgrund von Anweisungen einer „höheren Gewalt“, die in Washington ihren Sitz und ein großes Interesse an den Erdölreserven Venezuelas hat, die die weltweit größten zu sein scheinen. So ist es offensichtlich, dass der kaum ein Monat im Amt befindliche Parlamentspräsident Juan Guaidó, der sich am 23. Januar zum Präsidenten ausrief, nur eine Figur auf dem Schachbrett der USA ist.
Aber auch das Gerede von der Demokratie, dem Schutz der Menschenrechte und der „humanitären Hilfe“, das derzeit die Zeilen einer völlig desorientierten Weltpresse (mit wenigen Ausnahmen) füllt, ist ein Scheingefecht, in dessen Schatten bereits militärische Kräfte Aufstellung genommen haben. So hat die US-Armee des Southern Command bereits Curacao (etwa 70 Seemeilen von der venezolanischen Küste entfernt) in Beschlag genommen und der in den Iran-Contra-Skandal verwickelt gewesene Sonderbeauftragte von Präsident Trump, Elliott Abrams pendelt zwischen Brasilia und Bogotá, um die ordnungsgemäße Aufstellung größerer Truppenkontingente der brasilianischen bzw. kolumbianischen Armee zu überwachen.
Am 23. Februar, der von den internationalen Medien zum venezolanischen D-Day ausgerufen wurde, an dem es den an der venezolanisch-kolumbianischen stationierten „Contras“ (zumeist kolumbianische Paramilitärs und venezolanische Soldaten, die zu Guaidó übergelaufen waren) gelingen sollte, unter dem Vorwand des Schutzes von Hilfslieferungen zu den in Maracaibo gelegenen Ölfeldern vorzustoßen, dauerten die Kampfhandlungen laut mexikanischen Medienberichten etwa 13 Stunden bis sich die Angreifer zurückzogen. Der Versuch, dem selbsternannte Präsidenten Guaidó eine territoriale Machtbasis zu sichern war gescheiter und der US-amerikanische Vizepräsident Mike Pence sichtlich verärgert.
Aber es wäre ja nicht das erste Mal, dass ein US-Präsident von innenpolitischen Schwierigkeiten durch ein relativ spontanes militärisches Abenteuer ablenken würde. Für einen ausgewachsenen Interventionskrieg à la Irak wird es wahrscheinlich nicht ausreichen, da die venezolanische Armee ziemlich schlagkräftig und loyal gegenüber dem im Amt befindlichen Präsidenten ist. Trotzdem könnten die geplanten Kampfhandlungen immer weitere Kreise ziehen und außer Kontrolle geraten.