PA: Laut UN leiden 690 Mio. Menschen an chronischem Hunger

Die Hungerzahlen steigen das fünfte Jahr in Folge. Menschenrechtsorganisation FIAN fordert Umkehr der Politik.

Die Welternährungsorganisation FAO hat gestern in New York ihren aktuellen Welternährungsbericht (SOFI) vorgestellt. Demnach ist die Zahl chronisch hungernder Menschen im vergangenen Jahr um zehn Millionen angestiegen. 144 Millionen Kinder unter fünf Jahren – mehr als 20 % – sind in ihrem Wachstum beeinträchtigt. Insgesamt zwei Milliarden Menschen sind von mittlerer bis schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen. Die Zahlen bestätigen die besorgniserregenden Trends der vergangenen fünf Jahre – obwohl der Bericht noch nicht die Folgen der Corona-Pandemie berücksichtigt. Für das laufende Jahr erwartet die UN-Organisation einen dramatischen Anstieg hungernder Menschen um rund 80 bis 130 Millionen Menschen.

„Obwohl wir weltweit einen Überfluss an Nahrungsmittel produzieren, wird das Menschenrecht auf Nahrung von immer mehr Menschen zunehmend verletzt“, so Lukas Schmidt, Geschäftsleiter der Menschenrechtsorganisation FIAN Österreich. Die Erreichung des Ziels, den Hunger bis 2030 zu besiegen, wird mehr und mehr unrealistisch.

Über drei Milliarden Menschen weltweit sind zu arm, um sich gesund ernähren zu können. Zudem offenbart der Bericht einen massiven Mangel an nährstoffhaltigen Nahrungsmitteln – Gemüse und Obst – vor allem in Afrika. „Dazu tragen Länder des Nordens erheblich bei, oft im Tandem mit Agrarkonzernen. Sie setzen stark auf den exportorientierten Anbau von Monokulturen wie Mais, Baumwolle oder Soja. Entwicklungszusammenarbeit wird oftmals mit dementsprechenden Bedingungen verknüpft“, so Schmidt weiter.

Hunger ist kein Schicksal, sondern wird gemacht
Agrarstrategien konzentrieren sich zunehmend auf sogenannte cash crops und vernachlässigen den kleinbäuerlichen Anbau traditioneller, nahrhafter Pflanzen. „In Ländern des Südens werden rund zwei Drittel aller Nahrungsmittel von Kleinbäuer*innen produziert. Diese werden seit Jahrzehnten in unfruchtbare und abgelegene Gebiete abgedrängt und einem unfairen globalen Wettbewerb ausgesetzt. Die Politik muss endlich umsteuern – weg von konzerndominierten Ernährungssystemen hin zu einer Politik, welche die Bedürfnisse von Landwirt*innen und hungernden Menschen ins Zentrum stellt“, betont FIAN-Projektkoordinatorin Tina Wirnsberger. Ein entscheidender Schritt ist die sofortige Umsetzung der UN-Erklärung für die Rechte von Kleinbäuer*innen und anderen Menschen in ländlichen Regionen im Rahmen der österreichischen und europäischen Entwicklungs-, Handels- und Agrarpolitik.

„Wir müssen endlich begreifen, dass Hunger kein Schicksal ist! Hunger ist meist ein Resultat von Diskriminierung und Ausgrenzung“, so Schmidt. Ein Mix aus nationalen Politiken und internationalen Abkommen privilegiert heute einseitig industrielle und konzerndominierte Ernährungssysteme: inputintensive Landwirtschaft, auf Ausbeutung basierende Versorgungsketten, Investitionsabkommen oder marktbasierte Antworten auf die Klimakrise. Auch die aktuellen Corona-Maßnahmen fördern einseitig die industrielle Lebensmittelversorgung.

Ein großes Manko des Berichts sind nach Auffassung von FIAN die fehlenden Angaben zu Hungertoten. „Jedes Jahr sterben Millionen Menschen an Hunger. Es ist kaum zu glauben, dass es zu einem für die Menschheit so zentralen Thema keine belastbaren Zahlen gibt“, schließt Wirnsberger.

Hintergrund zu den Hungerzahlen:
Die Welternährungsorganisation FAO veröffentlich jährlich eine Schätzung zur Hungersituation weltweit. Dies geschieht klassisch mit dem Indikator „Verbreitung von Unterernährung“ (engl. Prevalence of Undernourishment, kurz PoU). Der Indikator bezieht sich vor allem auf die Unterschreitung einer minimalen Versorgung mit Kalorien.
Die heute veröffentlichte Zahlenreihe liegt mehr als 100 Millionen niedriger als jene des Berichts vom Vorjahr. Die FAO begründet dies mit verbesserten Daten der letzten 20 Jahre, vor allem aus China. Eine Vergleichbarkeit mit älteren Berichten ist daher nicht möglich.
Seit drei Jahren veröffentlicht die FAO zudem Zahlen eines zweiten Indikators. Der so genannte Food Insecurity Experience Scale (FIES) beruht im Gegensatz zur kalorienbasierten Kalkulation auf konkreten Haushaltsbefragungen und kann besser unterschiedliche Schweregrade von Hunger messen. Demnach wird zwischen leichter, mittlerer und schwerer Ernährungsunsicherheit unterschieden.

Rückfragen:
Lukas Schmidt lukas.schmidt@fian.at
Tina Wirnsberger tina.wirnsberger@fian.at