EU: Hungerbekämpfung darf nicht als trojanisches Pferd der Agrarindustrie dienen
Die Menschenrechtsorganisation FIAN für das Recht auf Nahrung: Green Deal, Farm to Fork und Biodiversitätsstrategie sind Beitrag zu langfristiger Ernährungssicherheit
Der Einfluss des russischen Angriffskrieges auf den Getreide-, Ölsaat- und Düngermarkt wird besonders jene Länder treffen, welche in den letzten Jahrzehnten in eine Abhängigkeit von Importgetreide und landwirtschaftlichen Inputs gedrängt worden sind. Die EU-Kommission ist daher gefordert, Lösungen zu unterstützen, welche die Unabhängigkeit und Ernährungssouveränität der Betroffenen stärken. „Das Recht auf Nahrung stellt unmissverständlich klar, dass es Menschen möglich sein muss, sich selbständig ernähren zu können“, so Tina Wirnsberger, FIAN-Referentin für Klima und kleinbäuerliche Rechte. „Hungerbekämpfung darf kein trojanisches Pferd für die Interessen der Agrarindustrie sein. Alle Maßnahmen gegen eine drohende Ernährungskrise müssen die Stärkung kleinbäuerlicher Produzent*innen und regionaler Ernährungssysteme in den Mittelpunkt stellen.“
Lokale Märkte im Globalen Süden bedroht
Von den aktuellen Vorschlägen wie der Intensivierung der industriellen Landwirtschaft, einer Flut von Cash Crops am Markt und der Abkehr von nachhaltigen Zielen wie der strikten Reduktion von Pestiziden werden jedoch nicht die hungernden Menschen im Globalen Süden profitieren. Vielmehr ist zu befürchten, dass eine „Hungerhilfe“ der europäischen Agrarindustrie durch Exportwaren die lokalen Märkte in den Zielländern weiter zerstört, statt die Nahrungsmittelproduzierenden vor Ort zu stärken. Unter dem Deckmantel der „globalen Verantwortung“ opfert die Europäische Union jedoch gerade alle Bemühungen für ein nachhaltiges und gerechtes Ernährungssystem.
Zunahme von Landgrabbing befürchtet
Der Zugang zu Land ist essenziell für die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung. Doch werden weltweit im Namen der „Hungerkrisenbewältigung“ und Produktivitätssteigerung täglich tausende Bäuer*innen, Nomad*innen, Indigene und Fischer*innen von ihrem Land vertrieben. Die Forderung der Agrarministerin Elisabeth Köstinger, Biodiversitätsflächen freizugeben, lässt in diesem Zusammenhang aufhorchen und schürt Befürchtungen, dass mit diesem Vorwand Landgrabbing Tür und Tor geöffnet werden.
Durch die zunehmende Verknappung natürlicher Ressourcen in der Klimakrise sind Menschen in ländlichen Gebieten ohnehin besonders betroffen – jene Personen, die am wenigsten zur globalen Erwärmung beitragen, bekommen sie als erste zu spüren. Ein Drittel der weltweit ausgestoßenen Treibhausgasemissionen geht derzeit auf die industrielle Lebensmittelproduktion zurück. Auch der Weltklimarat warnt in seinem neuesten Bericht, dass eine „nicht nachhaltige landwirtschaftliche Expansion die Anfälligkeit der Ökosysteme und der Menschen erhöht.“
Langfristige Sicherheit nur durch Ernährungswende
„Die wahre globale Verantwortung der Europäischen Union läge nun umso mehr darin, den eigenen CO2-Fußabdruck drastisch zu reduzieren“, so Wirnsberger abschließend. „Die Folgen des Kriegs in der Ukraine sind kein Grund, den Green Deal und die Strategien Farm to Fork und Biodiversität auf Eis zu legen. Im Gegenteil: Die Umstellung auf Agrarökologie, ökologischen Landbau und Agroforstwirtschaft sind der einzige Weg zu langfristiger Ernährungssicherheit.“ FIAN hat daher gemeinsam mit 100 weiteren europäischen und internationalen Organisationen die zuständigen EU-Kommissar*innen aufgefordert, an den nachhaltigen Strategien festzuhalten und die Bemühungen für eine ökologische und soziale Ernährungswende im Lichte der Ukrainekrise zu verstärken.
Hintergrund: Bis zu 811 Millionen Menschen sind laut UN-Agrarorganisation FAO zurzeit unterernährt, die Hungerzahlen sind in den vergangenen sechs Jahren kontinuierlich gestiegen. Nicht nur die FAO und Menschenrechtsorganisationen schlagen deshalb Alarm. Auch der Weltklimarat (IPCC) warnt in seinem neuesten Bericht, dass bis 2050 bis zu 183 Millionen Menschen zusätzlich unterernährt sein könnten. 3,3 bis 3,6 Milliarden der knapp acht Milliarden Menschen weltweit sind bereits „sehr anfällig“ für die Folgen der Klimakrise. 80 Prozent der Hungernden sind selbst Lebensmittelproduzent*innen, paradoxerweise hungern also jene am meisten, die Nahrung erzeugen. Die Ursachen dafür liegen vor allem in der Diskriminierung der ländlichen Bevölkerung.
Rückfragehinweis:
Tina Wirnsberger
FIAN Österreich
Int. Menschenrechtsorganisation für das Recht auf Nahrung
Schwarzspanierstraße 15/3/1, 1090 Wien, Austria
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