PA: Brasilien zwischen Abgrund und vorsichtiger Hoffnung
Die Brasilianer*innen haben am Sonntag nicht nur die Wahl zwischen zwei Präsidentschaftskandidaten. Das Land steht vielmehr an einem Scheideweg. Führt eine Wiederwahl Bolsonaros zu ungarischen Zuständen? Oder gelingt es Lula da Silva der Entwicklung des größten lateinamerikanischen Landes eine grundlegende Wendung zu geben? Dazu nehmen zwei renommierte Wissenschafter*innen und Brasilien-Expert*innen in der folgenden Pressemitteilung von „Diskurs. Das Wissenschaftsnetz“ Stellung.
[Wien, 27.10.2022] Die beiden Kontrahenten stehen sich zwar zum ersten Mal direkt bei einer Wahl gegenüber, ihre konträren politischen Zielsetzungen sind aber in der politischen Praxis schon vorher kollidiert, wie ein Blick in die jüngste brasilianische Geschichte zeigt.
Die beiden Regierungen von Ex-Präsident Lula da Silva (2003-2011) haben die brasilianische Gesellschaft, die von jahrhundertelanger Sklaverei und von tiefer sozialer und ethnischer Ungleichheit geprägt ist, eine Spur gerechter gemacht. Durch Quotenregelungen an Universitäten und im öffentlichen Dienst, durch neue Lehrpläne, die afrobrasilianische Geschichte in den Unterricht einbeziehen müssen, wurden Sklaverei und struktureller Rassismus stärker thematisiert. Zumindest wurde der nationale Mythos der sogenannten „Rassendemokratie“, des vermeintlich harmonischen Zusammenlebens unterschiedlicher ethnischer Gruppen, erstmals kritisch hinterfragt. Die Sozialtransferprogramme der Regierungen Fernando Henrique Cardoso, Lula und Dilma Rousseff kamen vor der Finanzkrise von 2013 etwa 40 Millionen Menschen zugute.
Ursula Prutsch, Professorin an der LMU-München, verweist darauf, dass die Regierung Bolsonaro die Reformen von Lula offensiv in die Gegenrichtung steuerte: „Sie hat mit ihrer katastrophalen Wirtschaftspolitik und ihrem Versagen im Covid-Management mindestens 30 Millionen Menschen in bittere Armut gedrückt.“ Trotzdem hat Bolsonaro gerade auf dem Land, in Süd- und Westbrasilien und im Amazonas-Gebiet eine große Anhängerschaft, die seinen lockeren Umgang mit Waffen, sein aggressives Auftreten und seine Modernisierungspolitik auf Kosten der Natur gut findet.
„Umweltpolitik spielt in Brasilien, dem Land, das die ‚Pioniere‘, die rücksichtslosen Bezwinger des Urwalds noch immer glorifiziert, eine sehr geringe Rolle,“ so Andreas Novy, Sozioökonom und Leiter des Institute for Multi-Level Governance and Development an der WU Wien. Er meint: „Der zweite Wahldurchgang bleibt spannend. Lula gelang zwar ein ähnlich breites Bündnis wie Van der Bellen vor wenigen Wochen in Österreich. Es ist aber unklar, ob Bolsonaro mit milliardenschwerem Stimmenkauf auf Staatskosten, Fakenews und evangelikaler Unterstützung nicht trotzdem Erfolg haben wird.“
Der erste Durchgang der Wahlen brachte große Erfolge für Bolsonaros Verbündete in den Bundesstaaten und bei den Kongress- und Senatswahlen. Jair Bolsonaro hat damit die Institutionen des Staates sowie die sozialen Medien erfolgreicher als erwartet genutzt, um seine Macht abzusichern. „Gewinnt er auch die Stichwahl, dann könnte dies das Ende der liberalen Demokratie in Brasilien bedeuten: Impeachment unangenehmer Richter, Entlassung regierungskritischer Beamter, vor allem in Justiz und Polizei, Zerschlagung von Wissenschaftseinrichtungen sowie ungeahndete politische Gewalt wären wahrscheinliche nächste Schritte“, so Andreas Novy. Außerdem würde die Amazonaszerstörung fortgesetzt, mit der Aussicht, dass der Regenwald noch früher als befürchtet zur Savanne werden könnte – mit verheerenden Folgen für das Weltklima.
Wiewohl die Chancen weiterhin gut stehen, dass Bolsonaro die Stichwahl verliert, ist damit die Zukunft des brasilianischen Regenwaldes und der indigenen Bevölkerung höchst ungewiss. Sollte Lula die Wahlen gewinnen, wird es nämlich viel Geschick bedürfen, einen Kurswechsel einzuleiten. So stehen im Amazonas fast alle Gouverneure Klimapolitik ablehnend gegenüber.
Besonders wichtig ist laut den beiden Expert*innen, den Rechtsstaat und Wissenschaft zu verteidigen und kurzfristig Löhne und soziale Infrastrukturen zu verbessern. Die Chancen für einen nachhaltigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel sind nach dem ersten Durchgang der Wahlen jedoch deutlich gesunken. Bolsonaros Anhänger erzielten große Erfolge bei den Gouverneurs-, Senat- und Kongresswahlen. Andreas Novy meint dazu: „Lula wird in einer möglichen dritten Amtszeit vor allem bestehende Institutionen der liberalen Demokratie verteidigen müssen. Sein an sich linkes Programm ist stark sozialpartnerschaftlich geprägt und erhielt im zweiten Durchgang breite Unterstützung auch durch Konservative: Viele nehmen trotz ideologischer Differenzen Lulas Einladung an, „ein Stück des Weges gemeinsam zu gehen“ – aus Angst vor Bolsonaro. In diese Richtung wies schon die Wahl des Vizepräsidentschaftskandidaten. Geraldo Alckmin ist ein erfolgreicher konservativer Politiker, der Lula 2006 in der Präsidentschaftswahl unterlag. Jedoch wird es schwierig, gleichzeitig gesellschaftliche Gräben zu überwinden und einen Politikwechsel, vor allem in Umwelt- und Sozialpolitik, rasch einzuleiten. Aus heutiger Sicht ist unklar, ob dies gelingen wird.“
„Außenpolitisch besteht eine der größten Herausforderungen darin, die untergeordnete und zerstörerische Integration Brasiliens in den Weltmarkt zu verändern und der Ausbeutung seiner Ressourcen durch den globalen Norden Grenzen zu setzen“, sagt Novy. Ob und wie dies gelingen soll, ist fraglich. Auch Ursula Prutsch weist auf die Herausforderungen und Begrenzungen eines möglichen dritten Lula-Projektes hin: „Lula muss den massiven Umweltzerstörungen Einhalt gebieten und den Militärs entgegenkommen, die im Amazonasraum institutionell und sicherheitspolitisch sehr präsent geworden sind – möglicherweise durch Posten oder Rüstungskäufe wie 2009.“ Und weiter: „Lula, der mit Parteien der Mitte und wirtschaftsliberalen Parteien eine Koalition eingehen wird, müsste dafür sorgen, dass die Arbeiterpartei PT weniger bevormundend von oben agiert, ethnisch inklusiver wird und wieder stärker basisdemokratisch agiert. Außenpolitisch müsste er versuchen, das Image Brasiliens als diplomatische Verhandlungsmacht zwischen großen Industrienationen und dem sogenannten ‚globalen Süden‘ zu rehabilitieren, das Brasilien international Wertschätzung gebracht hat.“
Ursula Prutsch studierte Geschichte und Spanisch in Graz und habilitierte sich an der Universität Wien. Sie forscht und lehrt lateinamerikanische und US-amerikanische Geschichte am Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München: ursula.prutsch@lmu.de
Andreas Novy ist Sozioökonom und leitet das Institute for Multi-Level Governance and Development an der WU Wien. Er forscht unter anderem zu Lateinamerika und Brasilien sowie zu Fragen sozial-ökologischer Transformation und sozioökonomischer Entwicklung: andreas.novy@wu.ac.at
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