Das Entscheidungsjahr
Die Parlamentswahlen und die Präsidentschaftswahlen haben in Kolumbien den künftigen politischen Kurs entschieden: die Fortsetzung der Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der Guerilla liegt.
Von Werner Hörtner
(Sept 2014) Seit November 2012 laufen in der kubanischen Hauptstadt Havanna die Verhandlungen zwischen einer Delegation der FARC-Guerilla (Revolutionäre Streitkräfte) und der Regierung. Vor kurzem hat auch der Dialog mit der zweiten noch existierenden Guerillabewegung, der ELN (Nationales Befreiungsheer), begonnen.
Die jahrzehntelange Praxis der beiden Großparteien Konservative und Liberale, die wichtigsten politischen Ämter im Land untereinander aufzuteilen, hat zu einem immensen politischen Desinteresse der Wählerschaft geführt, die mit ihrem Stimmzettel ohnehin nichts bewirken konnte. So verzichtet seit mehr als einem halben Jahrhundert regelmäßig die Hälfte – oder mehr – der wahlberechtigten Bevölkerung auf ihr Stimmrecht. Das hatte und hat zur Folge, dass sich das kolumbianische Establishment ungehindert an der Macht halten konnte.
Bei den Parlamentswahlen vom vergangenen 9. März haben von 32,8 Mio. Stimmberechtigten mehr als zwei Drittel von ihrem Wahlrecht nicht Gebrauch gemacht, bei dem zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahlen Mitte Juni waren es immerhin noch mehr als die Hälfte. Das heißt, dass Präsident Santos von etwas weniger als einem Viertel der Wahlberechtigten in seinem Amt bestätigt wurde.
Bei den Wahlen drehte sich die beherrschende Diskussion um das Thema Frieden. Die Anführer der beiden Lager sind der rechtsautoritäre Expräsident Álvaro Uribe Vélez (2002–2010) und sein einstiger politischer Stiefsohn und Nachfolger Juan Manuel Santos. Uribe versprach, im Fall des Sieges seiner Marionette Oscar Iván Zuluaga die Verhandlungen mit der Guerilla zu suspendieren, während Santos – und die Links- und Mitte-Parteien – sich für die Fortsetzung des Friedensprozesses engagierten.
Das knappe Ergebnis bei der Stichwahl am 15. Juni zeigte, dass die beiden Lager fast gleich stark sind – ein aus unserer Sicht schwer verständliches Phänomen nach mehr als einem halben Jahrhundert des bewaffneten Konflikts, in dessen Verlauf über 220.000 Menschen eines gewaltsamen Todes starben. 23.000 – zum überwiegenden Großteil Regimegegner und -kritikerinnen – wurden gezielt aus politischen Gründen liquidiert.
Das Damokles-Schwert eines Abbruchs des Friedensdialogs hat die beiden Verhandlungspartner Regierung und FARC zu einer größeren Kompromissbereitschaft geführt. Von den sechs vereinbarten Verhandlungspunkten sind bereits drei abgeschlossen, einer – die Entschädigung der Opfer des Konflikts – ist derzeit in Diskussion, die Themen Entwaffnung der Guerilla und die Übergangsjustiz (mit dem heiklen Thema der Sanktionierung schwerer Menschenrechtsverletzungen) stehen noch bevor. Präsident Santos schätzt, dass das Friedensabkommen Anfang nächsten Jahres abgeschlossen wird.
Mitte August kam es zu einem spektakulären Novum in dem fast zwei Jahre andauernden Friedensprozess: Eine Delegation von VertreterInnen nationaler Opferverbände wurde nach Havanna eingeladen, um dort ihre Forderungen an die Verhandlungspartner vorzulegen. Alle drei Parteien zeigten sich sehr zufrieden mit dem Ergebnis dieses Treffens. Für die nahe Zukunft sind weitere solcher Zusammenkünfte beabsichtigt.
Expräsident Uribe schaffte es bei den Kongresswahlen im vergangenen März, mit seiner Rechtspartei „Demokratisches Zentrum“ im Senat – neben dem Abgeordnetenhaus die zweite und wichtigere Parlamentskammer – eine starke Fraktion zu bilden. Von dort aus wird er auch in Zukunft versuchen, den Friedensdialog zu torpedieren. Und sein eigenes politisches Überleben zu sichern. In einer der ersten Sitzungen Anfang August gelang es dem Hardliner, eine vom Linkssenator Iván Cepeda eingeleitete Debatte über seine Verbindungen zum Drogenhandel und zum Paramilitarismus mit 52 gegen 30 Stimmen abzuwürgen.
Werner Hörtner, Journalist und Autor, beschäftigt sich seit Jahren mit Kolumbien. 2013 ist das Buch „Kolumbien am Scheideweg“ erschienen.