Archiv der Kategorie: Syrien

image_pdfimage_print

Stoppt die Kriege!

Foto: privat

Aus der Sicht des globalen Südens ist diese Forderung eine notwendige Bedingung zur Überwindung des Flüchtlingelends.

Ein aktueller Kommentar von Leo Gabriel

Es ist noch nicht allzu lange her, da fanden Zigtausende EuropäerInnen Zuflucht vor Faschismus und Krieg in Mexiko, Kolumbien und Argentinien – unter anderem sogar einige prominente Nazis. Aber auch heute steigt die Zahl der so genannten „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus Europa, meist qualifizierte Arbeitslose der jüngeren Generation aus Frankreich, Italien oder Spanien, die in Lateinamerika einen ihnen entsprechenden Arbeitsplatz suchen.

All das war und ist nicht vergleichbar mit dem Elend derjenigen, die nach Europa oder die USA fliehen. Die meisten von ihnen haben die Hoffnung, dass es ihnen in den Metropolen jenes Systems, das heute die Welt beherrscht, besser gehen wird als in ihrer von Kriegen und Gewalt zerrütteten Heimat.

500 Jahre Kolonialgeschichte
Dabei vergessen die Flüchtlinge aus dem globalen Süden oft, dass im Norden die Verantwortlichen für Politik und Wirtschaft längst verlernt haben in politisch-historischen Kategorien zu denken. Denn sonst wüssten sie, dass die MigrantInnen – ob sie jetzt AsylwerberInnen sind oder nicht – vor genau jenem diskriminierenden, ausbeuterischen und gewaltbereiten System fliehen, das schon ihre Vorväter erleiden mussten.

Sind 500 Jahre Kolonialismus und Postkolonialismus etwa nicht genug, um festzustellen, dass die Welt gespalten ist? Und zwar nicht in Links und Rechts, sondern in Zentrum und Peripherie; nicht in „entwickelte“ und „unterentwickelte“ Länder, sondern in Täter und Opfer einer Geschichte, die letztendlich an den Schaltstellen des Nordens verändert werden kann.

Haben sich diejenigen, die heute nach mehr Kontrolle, Abschottung, Polizei und Militär schreien und nach einem „starken Mann“ rufen, der die überkommene Ordnung wieder herstellen kann, schon einmal gefragt, was sie selbst tun könnten, um die Kriege in Syrien, Afghanistan, Pakistan und der Ukraine zu beenden? Nein, denn das überlassen sie lieber den Totengräbern der Macht, die selbst an der weltweiten Armut und Gewalt noch verdienen.

Katastrophe Syrien
Seit drei Jahren versucht etwa das UNHCR der Weltöffentlichkeit klar zu machen, dass der Krieg in Syrien „die größte humanitäre Katastrophe seit dem 2. Weltkrieg“ hervorgebracht hat: seither war es noch nie der Fall, dass in der Folge eines Krieges mehr als die Hälfte der Bevölkerung eines Landes in die Flucht geschlagen wurde – 4,5 Millionen allein in die Nachbarländer Türkei, Libanon und Jordanien.

Doch das kümmerte die Regierungen im Norden kaum. Großzügig stellten sie zur Linderung des Flüchtlingselends ein paar Hundert Millionen zur Verfügung, während sie Hunderte Milliarden zur Rettung ihres Finanzsystems freigegeben hatten. Erst als Terrorakte wie das Massaker in den Redaktionsräumen von „Charlie Hebdo“ und die Ermordung von westlichen Journalisten stattfanden, begann sich die Weltöffentlichkeit für den so genannten Islamischen Staat zu interessieren, der bereits seit 2013 Tausende von ZivilistInnen in Syrien und dem Irak erbarmungslos liquidiert hatte.

Konzertierte Aktionen für den Frieden
Auch jetzt geht wieder ein Ruck durch die europäische Öffentlichkeit angesichts der vielen neu angekommenen Flüchtlinge in Europa. Doch darf bei aller Hochachtung, die den humanitären FlüchtlingshelferInnen hierzulande und anderswo gezollt werden muss, nicht vergessen werden, dass diese massive Fluchtbewegung nicht abreißen wird, solange es nicht gelingt, die Kriege zu stoppen, welche die eigentliche Ursache für die Fluchtbewegung aus Syrien, der Ukraine oder Afghanistan darstellen. Dabei muss man sich im Klaren sein, dass diese Massaker schon aufgrund des Kräfteverhältnisses in und um die betroffenen Länder nicht durch militärische Interventionen, sondern nur durch konzertierte Aktionen der Zivilgesellschaft in- und außerhalb dieser Länder gestoppt werden können.

In diesem Sinne sind auch die Flüchtlinge, die nach Europa kommen, als potentielle MitstreiterInnen für einen anhaltenden Frieden in den betroffenen Regionen anzusehen.

Aber auch in den Ländern des globalen Nordens ist es heute notwendiger denn je, jene Friedensbewegung wiederzubeleben, die am 15. Februar 2003 in allen Teilen der Welt millionenfach auf die Straße gegangen ist, um gegen den damals herannahenden Krieg im Irak zu protestieren. Hätte die Staatengemeinschaft damals auf die Zivilgesellschaft gehört, anstelle nach der Pfeife von George W. Bush zu tanzen, gäbe es heute keinen Islamischen Staat und auch keine humanitären Katastrophen.


Leo Gabriel ist Journalist, Anthropologe und Mitglied des Internationalen Rates des Weltsozialforums. Er ist auch Mitbegründer der international-syrischen Initiative www.peaceinsyria.org, die 2013 im Rahmen des Weltsozialforum entstand und im März 2014 ein Treffen mit RepräsentatInnen der syrischen Zivilgesellschaft auf der Friedensburg Schlaining organisierte. Die dort verabschiedete gemeinsame Erklärung für einen dauerhaften Frieden in Syrien lesen Sie hier.

 

Kampfgeist auf Kurdisch

Foto: privat

Die Kurden um Kobane punkten nicht nur militärisch gegen den IS, sondern machen auch in anderen Belangen Hoffnung. Leo Gabriel teilt frische Eindrücke aus der Region.

Chance für Medien. Angesichts der weltweiten Bedrohung durch die selbsternannten und fälschlicherweise als „Islamischen Staat“ bezeichnete Terrororganisation sind Journalistenreisen durch die Kampfgebiete Syriens heute eine Seltenheit geworden. Zu groß ist die Angst der Berichterstatter vor den orangenfarbigen Hemden geworden, die so manchem Kollegen von der internationalen Presse zum tödlichen Verhängnis geworden sind.
Dabei wird allerdings vergessen, dass auch der seit dreieinhalb Jahren tobende Krieg in Syrien durchaus Strukturen aufweist; dass es hier ebenso wie in anderen Kriegsgebieten Fronten gibt und dass es neben dem Menschen-verachtenden Bösen auch kosntruktive politisch-militärische Kräfte gibt.

Hoffnung Rojava. Ich beziehe mich dabei auf das von der kurdischen PYD (Partiya Yekitîya Demokrat, dt. „Partei der Demokratischen Union“) dominierte Rojava, jenen relativ dicht besiedelten Landstreifen, der sich entlang der Grenze zur Türkei von der irakischen Grenze bis in die Gegend von Aleppo zieht. Nur wenige wissen, warum dieser im äußersten Nordosten gelegene Landesteil Syriens zu einem Hoffnungsregion für alle jene geworden ist, die ausgezogen waren, um sich die lange ersehnte Freiheit von diktatorischen Regime Bashar al Assads zu erkämpfen.

Rojava als „Westkurdistan“, wie es auf einer Website der PYD im Oktober 2013 umrissen wurde. Karte: Creative Commons/Panonian
Rojava als „Westkurdistan“, wie es auf einer Website der PYD im Oktober 2013 umrissen wurde. Karte: Creative Commons/Panonian

Die politischen Wurzeln der PYD gehen auf die einst viel geschmähte und oft als „terroristisch“ verteufelte PKK Abdullah Öcalans zurück. Kaum bekannt ist, dass heute im syrischen Teil Kurdistans seit etwa 1 1/2 Jahren ein politischer Prozess in Gang gekommen ist, der ausgehend von den Kommunen in den Stadtteilen und Dörfern das von Assad eingeführte hierarchisch kontrollierte System der Bath-Partei unterwandert hat.

Foto: Leo Gabriel
Foto: Leo Gabriel

Kobane. Die Stunde der Freiheit der kurdischen Autonomiebewegung ist paradoxerweise gerade zu jenem Zeitpunkt gekommen, als sie sich in ihrer größten Bedrängnis seit Jahrzehnten befunden hat; nämlich als die Einheiten des IS glaubten, die Stadt Kobane im Zentrum von Rojava einnehmen zu können. Dass jedoch die Kurden nach wochenlangen Kämpfen, mit Unterstützung der irakisch-kurdischen Perschmergas der IS eine vernichtete Niederlage bereiteten, kam nicht von ungefähr. Mit ihrem Konzept der „integralen Verteidigung“ gelang es ihnen aufgrund ihres hohen Organisationsgrades dem IS sozusagen den Boden unter den Füßen zu entziehen, indem sie die gesamte Zivilbevölkerung inklusive der Kinder und Alten evakuierten und Kobane in einen Kessel verwandelten, aus dem es kein Entrinnen gab.

Politische Erfolge. Mehr noch als diese militärischen Erfolge lassen sich die politischen sehen. In Windeseile gründete die PYD in Allianz mit etwa zwei Dutzend anderer Gruppierungen, zu denen auch die an sich regimetreuen christlichen Assyrer und Alawiten und Jesiden zählen, ein Parlament, in dem die Frauenquote 40 Prozent beträgt und in dem 20 Prozent der Abgeordneten parteiunabhängig sind. Dieses Parlament hat es innerhalb eines Jahres geschafft eine interkulturelle Erziehungsreform und eine komplette Neustrukturierung des gesellschaftlichen Systems umzusetzen, das jetzt, am 13. März mit den ersten allgemeinen Kommunalwahlen ihren Höhepunkt erreicht.
Dabei ist die Regierung von Rojava überaus bemüht und interessiert, die von ihr kontrollierten Gebiete internationalen Berichterstattern zu öffnen.


Kontakte nach Rojava können in Österreich jederzeit gerne von Leo Gabriel zur Verfügung gestellt werden. lgabriel@gmx.net