Molenbeek? Hereinspaziert!

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Molenbeek. Foto: Christine Moderbacher

Plädoyer für eine differenziertere und tiefgehende Berichterstattung anlässlich der Schlagzeilen über den Brüsseler Stadtteil Molenbeek. Kommentar von Christine Moderbacher*.

Ich musste in den vergangenen Wochen an Albrecht Dürer und sein „Rhinocerus“ aus dem Jahr 1515 denken, einer seiner bekanntesten Holzschnitte. Das Werk stellt ein aus Indien stammendes Panzernashorn dar. Dabei hatte Dürer selbst nie ein Nashorn gesehen, die Darstellung basiert auf Beschreibungen und Skizzen anderer. Das sieht man am Resultat.

So ähnlich war der Zugang vieler internationaler Medien, wenn es um Molenbeek ging. Also jenes Viertel in der belgischen Hauptstadt Brüssel, in der vermeintliche Drahtzieher der Attentate von Paris gewohnt haben sollen und in dem Fahndungen nach Terroristen durchgeführt wurden.
Vom „Rückzugsgebiet für Dschihadisten“, von der „Brutstätte des IS“ und dem „Schmelztiegel des Terrors“ ist hier die Rede. Molenbeek, „wo der Terror gedeiht“.
Die Berichterstattung kreiert ein Stigma, das noch lange an den BewohnerInnen des Viertels haften wird. Das wird die Zukunft der ohnehin schon in vielerlei Hinsicht marginalisierten Bevölkerung in Brüssel, und darüber hinaus, erschweren.

Für die Quote. Es handelt sich um mediale Panikmache. JournalistInnen leben ja mitunter von diesem Angstzustand. Ich muss zugeben, wir AnthropologInnen auch. Das Interesse an meinem Forschungsgebiet (ich forsche in Molenbeek) hat sich seit den Terroranschlägen in Paris im November um einiges vervielfacht. Nur: Innerhalb der Wissenschaft wird von „Last der Repräsentation“ gesprochen, wenn in der Öffentlichkeit nur auf einzelne Personen einer marginalisierten Gruppe fokussiert wird und diese dadurch fälschlicherweise einen repräsentativen Charakter für die gesamte Gruppe einnehmen. In vielen Medien werden aktuell solche Repräsentationen als absolute Wahrheit verkauft.

Mein Molenbeek. Ich habe ein Lieblingslokal in Molenbeek, das „Al Andalus“, wo ich jedes Mal herzlich begrüßt werde und Hedi, der Wirt, schon ahnt, was ich bestellen werde. Hier treffe ich auch immer wieder Yassin und Hakim, beide Anfang 20, beide aus Molenbeek. Stimmen wie die von Yassin, Hakim und Hedi kommen selten zu Wort. Ein Missverhältnis, das nur schwer zu durchbrechen ist, wenn, wie Wirt Hedi sagt, „die internationalen Medien nur einen kurzen Abstecher nach Molenbeek machen“. JournalistInnen müssten etwas genauer hinschauen, oder etwas länger bleiben.

Ein konkretes Beispiel eines Missverständnisses: Molenbeek ist nur auf den ersten Blick wie ein Pariser Banlieu. Eine Parallele, die in den vergangenen Wochen in Medien oft gezogen wurde. Molenbeek aber ist kein Armutsgürtel am Rande der Stadt, sondern spiegelt seine eigenen demographischen und stadtentwicklerischen Besonderheit wider.

Einst Dorf. Molenbeek ist mittendrin und doch isoliert. Molenbeek Saint Jean, oder Sint-Jans-Molenbeek, der flämische Name, war einst ein Dorf am Stadtrand von Brüssel. Dann kam die Industrialisierung: Straßennamen wie Rue du Manchester und Rue du Birmingham erinnern wie die mittlerweile schon lange wieder aufgelassenen Fabrikgebäude noch an diese Zeit.
Als Folge des rasanten Wirtschaftsaufschwungs und dem damit verbundenen sozialen Aufstieg zog es die belgische Mittelklasse in den 50iger und 60iger Jahren an den Stadtrand. Als „Gastarbeiter“ geholte Türken und Marokkaner siedelten sich in Molenbeek an, und bewahrten damit die Innenstadt vor dem Verfall. Kettenmigration und Familiennachzug prägten die weitere Entwicklung und führten zum hohen Anteil der jeweiligen MigrantInnen.

Leistbar. Von der Brüsseler Innenstadt ist Molenbeek räumlich nur getrennt durch einen Kanal. Der Bau des EU-Viertels allerdings verschärfte diese Trennung: Durch die steigenden Mietpreise, nicht zuletzt gefördert durch den Zuzug hochbezahlter BeamtInnen und DiplomatInnen, sind bis heute für MigrantInnen nur Wohnungen in Bezirken wie Molenbeek leistbar.
Diese Segregation fördert das Gefühl unter den Menschen im Stadtteil, weder Raum noch Zukunft außerhalb der heruntergekommenen Straßen des eigenen Viertels zu haben. Was der Wissenschaft übrigens seit Jahren bekannt ist. Reagiert wurde auf Forschungsergebnisse seitens der Politik nie. Seit Paris ist das Problem der Perspektivlosigkeit, vor allem vieler junger Menschen in Molenbeek, unübersehbar geworden.
Darüber zu berichten ist wichtig. Die Frage ist nur wie: Reicht es, von der Distanz aus zu recherchieren oder sollte man sich nicht ein eigenes Bild machen?

 


* Die Anthropologin und Filmemacherin Christine Moderbacher ist Teil des Forschungsprojekts „KFI-Knowing from the Inside“ an der Universität von Aberdeen. Sie lebt und arbeitet seit sechs Jahren in Brüssel.

 




Boko Haram – Hintergrund, Potential, Finanzierung

Boko Haram, die militante islamistische Terrorgruppe, ist zu einer Logo_of_Boko_Haram.svggewaltigen Herausforderung für die Entwicklung Nigerias geworden. Laut Human Rights Watch (HRW) sind allein im ersten Halbjahr 2014 2.053 Menschen von Boko Haram getötet worden.
Für Schlagzeilen sorgte die Entführung von merh als 240 Schülerinnen aus der Stadt Chibok im Bundesstaat Borno. Im Web2.0 wurde #BringBackOurGirls zum Slogan.

Genau genommen heißt die Sekte auf Arabsich Jama’atu Ahlis Sunna Lidda’Awati Wal-Jihad, was im Deutschen meist mit“Vereinigung der Sunniten für den Ruf zum Islam und den Dschihad“ übersetzt wird.

„Boko Haram“ wurde die militante Gruppe mit der Zeit von der internationalen Öffentlichkeit getauft.  Boko bedeutet auf Hausa „Westliche Bildun“, Haram auf Arabisch „verboten“.

Karte: Domenico-de-ga aus der deutschsprachigen Wikipedia
Karte: Domenico-de-ga aus der deutschsprachigen Wikipedia

Liegen die Wurzeln der Sekte weiter zurück, wurde sie in der heutigen Form  2002 von Mohammed Yusuf (1970-2009) in Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaates Borno im Nordosten Nigerias, gegründet.

Laut dem in Wien ansässigen nigerianischen Afrikawissenschaftler Bashir Alhaji-Shehu, der selbst aus dem Bundesstaat Borno stammt, radikalisierte sich die Gruppe erst mit der Zeit. Die Behörden vor Ort hätten Yusuf lange unterschätzt, so Alhaji-Shehu in der September-Ausgabe des Südwind-Magazin. Anfangs sei Boko Haram nicht so militant wie heute gewesen, die Exekutive habe allerdings fallweise überhart eingegriffen und damit Reaktionen provoziert.

Das Verhalten der Behörden könnten auch dazu beigetragen haben, dass es erst zur Entführung der Schülerinnen von Chibok kam. Laut einem Artikel der deutschen Ausgabe der Le Monde Diplomatique hatte sie der Anführer Abubakar Shekau angekündigt – und zwar auf „Reaktion auf ähnliche Methoden der Polizei und der staatlichen Sicherheitsorgane“, so Elizabeth Pearson und Jacob Zenn in der Juni-Ausgabe der Le Monde Diplomatique.

Boko Haram agiert mittlerweile international. Immer wieder kommt es zu Angriffen in Nachbarstaaten Nigerias. Laut Alhaji-Shehu sind auch Staaten mit größeren nigerianischen Communitys gefährdet, etwa Frankreich und Großbritannien. Für Österreich sieht er keine Gefahr: zwar bestehen nigerianische Communitys, aber es gäbe verschwindend wenige Migranten aus dem Norden Nigerias.

Vieles um Boko Haram ist noch unklar. Etwa Details darüber, wie sich die Bewegung finanziert. Eine Art der Finanzierung ist nachweisbar: Entführungen. Immer wieder hat die Gruppe in der Vergangenheit Menschen verschleppt und gegen Lösegeld wieder freigelassen.  Auch Banküberfälle gehören wohl dazu.

Marc Engelhardt, Journalist mit Fokus auf Terror-Gruppen in Afrika, vertritt zudem die Ansicht, dass es bei der Entführung der Schulmädchen um Schutzgeld ging. So müssten alle Menschen im – immer größer werdenden – von Boko Haram kontrollierten Gebiet Schutzgeld zahlen. Zudem habe die Al-Kaida nach 9/11 über 2 Mio. Euro „in Westafrika verteilen“ lassen.

Laut Engelhardt ist Boko Haram finanziell und operationell unabhängig. Der Etat zwischen 2006 und 2011 wird auf über 50 Millionen Euro geschätzt, „heute dürfte er höher liegen“, so Engelhardt in der Schweizer WOZ. Waffen würden mit diesem Geld dabei mitunter von korrupten nigerianischen Militärs gekauft.  Alhaji-Shehu kritisiert, dass die Soldaten, die Boko Haram besiegen sollen, viel zu schlecht und unverlässlich bezahlt werden.

Eine langfristige Lösung, so sind sich alle ExpertInnen einig, ist nur dann möglich, wenn Nigeria das Problem Korruption bekämpft. Und den Menschen in der nordöstlichen Region des Landes eine Perspektive bietet.  (sol)


Siehe auch: Africa-Check-Factsheet zu Boko Haram

Interview mit Bashir Alhaji-Shehu im Südwind-Magazin
Kontakt zum Afrikawissenschaftler auf Anfrage

Artikel Boko Haram, der Schrecken Nigerias in LMD vom 13. Juni 2014

Artikel Das Finanzsystem von Boko Haram von Marc Engelhardt in der WOZ vom 17. Juli 2014
Der Journalist und Autor veröffentlichte 2014 das Buch „Heiliger Krieg, heiliger Profit. Afrika als neues Schlachtfeld des internationalen Terrorismus.“ Ch. Links Verlag

AnsprechpartnerInnen zum Thema Boko Haram kann auch das VIDC vermitteln, das eine Veranstaltung zum Thema durchführte Ankündigung – Dokumentation

www.vidc.org, T +43 1 713 35 94