PA: Richtungsweisende Wahlen in Venezuela

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Der Forschungsverbund Lateinamerika der Universität Wien möchte auf die anstehenden Präsidentschaftswahlen am 28. Juli 2024 in Venezuela aufmerksam machen (erste Ergebnisse gibt es ab 29.07. 19h MEZ). Dieser Tag fällt auf den Geburtstag des 2013 verstorbenen Ex-Präsidenten Hugo Chávez Frias und wurde vom Nationalen Wahlrat kurzfristig festgelegt – weit früher als üblich, da die Amtsübergabe erst am 10. Jänner erfolgen wird. Wie auch immer der Wahlausgang sein wird, war die Wahl des frühen Datums wohl strategisch gewählt, um genügend Zeit danach zu lassen und um es dem Oppositionsbündnis Plataforma Unitaria Democrática (PUD) zu erschweren, sich auf deinen gemeinsamen Kandidaten zu einigen. 

Die Wahlen sind von enormer Wichtigkeit für die Region – wenngleich es ernsthafte Bedenken gibt, was die transparente Durchführung betrifft. Eine weitere Frage ist die Rolle der über sieben Millionen im Ausland lebenden VenezolanerInnen, die vor politischer Instabilität und Autoritarismus sowie vor Armut, Kriminalität, Verfolgung und Umweltauswirkungen geflohen bzw. emigriert sind. Denn diese können nach einem Entscheid der Wahlbehörde nur zu geringen Teilen wählen.

Johannes Waldmüller vom Forschungsverbund Lateinamerika betont, dass auch für Österreich die Wahlen interessant sind, da die österreichische Regierung 2019 offiziell Juan Guaidó – der heute sowohl innerhalb der Opposition, als auch bei dieser Wahl keinerlei Rolle spielt – als Interimspräsidenten anerkannt und dies seitdem auch nicht aufgehoben hat. Für den Juristen und Kulturanthropologen René Kuppe und den Politikwissenschaftler Johannes Waldmüller ist Guaidó allerdings nur nach Außen ein Hoffnungsträger jener gewesen, die auf eine echte Alternative zur jetzigen Politik in Venezuela hofften. Schon bald ging er Deals mit der Regierung ein, welche auf eine Aufteilung des Zugangs zu den begehrten Bodenschätzen hinausliefen. 
Venezuela spielt eine aus europäischer Sicht zweifelhafte Rolle im Ressourcensektor auf globaler Ebene in Zusammenarbeit mit den Aktivitäten von Russland, China, Iran, Kuba und diversen Nahost-Staaten (z.B. Aluminium/Bauxit, Gold und Erdöl), die sich allerdings grundsätzlich wenig von der Praxis anderer linksgerichteter Regime wie Brasilien oder Bolivien unterscheidet. Dennoch wurden die von den USA verhängten Sanktionen in Bezug auf den Handel mit Erdöl, Gas und Goldabbau im Zuge des Russlandkriegs und des erstarkten Rohstoffhungers wieder gelockert.

Trotz struktureller Einschränkungen – Verbot der Kandidatur wesentlicher KandidatInnen, Hürden beim Wahlkampf und bei der Berichterstattung im Land, kurzfristige Ausladung der lange geplanten EU-Wahlbeobachtungsmission sowie des US-amerikanischen Carter Centers seitens Venezuelas – sind dies die ersten Wahlen seit 10 Jahren, die potenziell zu ernsthaften Änderungen führen könnten.

Ein Grund dafür liegt in den seit Monaten in zähen Verhandlungen zwischen Regierung, Opposition und USA vor dem Hintergrund der von den USA in Aussicht gestellten weiteren Lockerungen der Sanktionen bei Abhaltung transparenter Wahlen. Die Nervosität der Regierung diesbezüglich zeigte sich bereits im schwelenden Grenzkonflikt mit dem Nachbarstaat Guayanas, der sich, so Lateinamerika-Kenner Johannes Waldmüller vom Forschungsverbund der Universität Wien, insbesondere durch die anstehende Wahl und populistische Instrumentalisierung nationalistischer Emotionen erklären lässt.

Venezuela wird seit 25 Jahren von chavistischen Parteien, seit 2008 von der unter Hugo Chávez gegründeten ParteiPartido Socialista Unido de Venezuela (PSUV) mit starken autoritären Zügen regiert. Es kam seinerzeit zwar auch zu national wie regional relevanten gesellschaftlichen Transformationsprozessen und Mobilisierungen, die auf soziale Beteilgungen „von unten“ hinausliefen, Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern der chavistischen Regierung sind jedoch seit Jahrzehnten von einer Spirale von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen geprägt. 

Seit gut 10 Jahren, nunmehr unter dem umstrittenen Präsidenten Nicolás Maduro, liegt das Land wirtschaftlich darnieder. Gemäß des UN Berichts des UN Sonderberichterstatters Alfred-Maurice de Zayas liegen die Ursachen nicht nur bei der korrumpierten Wirtschaftspolitik, sondern auch an harten internationalen Sanktionen gegen Venezuela. Aktuell liegt die Inflation bei 100% nach einem Peak von 65.300 % im Jahre 2018/2019 und nachfolgenden Währungsreformen. Zwar sind Lebensmittel seit wenigen Jahren wieder frei einführ- und verkaufbar, die Preise im Land sind allerdings weitgehend auf europäischem Niveau und werden, wenn auch inoffiziell, in US Dollar bezahlt. Gleichzeitig gibt es im Lande jenseits der großen Städte nach wie vor eklatanten Treibstoffmangel; begründet wird dies in erster Linie mit einer Demobilisierungsstrategie der Regierung.

Umfragen zeigen, dass gut zwei Drittel der Wählerschaft Maduro die Unterstützung verweigern will. Die Oppositionsparteien sahen sich allerdings weitgehenden Repressionen ausgesetzt: so wurde der vielversprechendsten rechts-liberalen Gegenkandidatin der Opposition, María Corina Machado, die Kandidatur verweigert. Sie hatte durch Unterschrift persönlich im April 2002 eine zwei Tage im Amt befindliche, gegen Hugo Chávez gerichtete Putschistenregierung unterstützt. Ihre Partei hatte sich jahrelang dafür eingesetzt, jegliche Wahlen überhaupt zu boykottieren und musste nun aufgrund der verfrühten Wahlen den 74jährigen Edmundo González, einen Ex-Diplomaten des Chavismus und ehemaligen Abgeordneten, als Kandidaten aufstellen. González genießt zwar aktuell breite Unterstützung, allerdings ist er ein relativ unbeschriebenes Blatt. So führt Machado nach wie vor im Lande den Wahlkampf an – und wird dabei allerhand Repressalien ausgesetzt. Trotz einer tiefgehenden Spaltung der Regierungsfraktion und ihrer AnhängerInnen – Chavez ja, Maduro nein – schafft es die Regierung nach wie vor mittels klientilistisch eingesetzter „Warenkörbe“ – also Nahrungsmittelhilfen an die Bevölkerung – und einer Erhöhung der Unterhaltszahlungen – die Massen insbesondere außerhalb der Städte zu mobilisieren. Die Ideale der chavistischen Revolution haben sich in weiten Teilen der ärmeren Bevölkerung allerdings, zumindest abstrakt, fest verankert, so dass trotz der Ablehnung der Person Nicolás Maduros auch große Vorbehalte gegenüber einer möglicherweise wirtschaftsliberal orientierten zukünftigen Regierung herrschen.

Es wird sich zeigen, ob das politische Momentum der Opposition derzeit in die Hände spielt; selbst bei einem weiteren Sieg der Regierung wird ihre Legitimität weiter angezweifelt werden und transitorische Verhandlungen werden weitergehen. So haben auch Unterstützer der aktuellen Regierung, wie die brasilianischen und kolumbianischen Präsidenten „Lula“ und Petro gefordert, beide Seiten sollten vorab garantieren, eine juristische Verfolgung der Wahlverlierer auszuschließen. Dies wurde von der Opposition ebenso wenig unterzeichnet, wie eine vorab Anerkennung des möglichen Wahlergebnisses. Eine offene Missachtung des Wählerwillens oder offener Wahlbetrug wären aber für die Regierung mit sehr hohen politischen Kosten im In- und Ausland verbunden. Denn ein großer Teil der Bevölkerung wünscht sich ein Ende der Sanktionen und eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation, welche sich bislang auf Kreise der Regierung, ihre Klientele und Kartelle, sowie die übermächtigen Militärs beschränkte, welche gleichzeitig den Erdöl- und Petrochemiesektor kontrollieren. 

Dazu kommt das unklare Szenario des Grenzkonflikts. Caracas verabschiedete kürzlich ein Gesetz, welches die ressourcenreiche Region Esequibo, dessen Zugehörigkeit seit Ende des 19. Jahrhunderts umstritten ist und die halb so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland, zu venezolanischem Staatsgebiet erklärte. Diese internationale Positionierung wird allerdings im Land sowohl von Unterstützern wie von Gegner der aktuellen Regierung großteils geteilt, und Maduro versuchte mit der Aktualisierung dieses Themas zu punkten. KritikerInnen dieser Position kann fortan das passive Wahlrecht entzogen werden. Ob sich also Regierung und Militärs nach den Wahlen auf eine relativ friedliche Transitionsphase einlassen, und unter welchen Bedingungen bzw. unter Vermittlung welcher dritten Kräfte sie dies tun, ist derzeit völlig offen. Die aktuelle Regierung hat jedenfalls viel zu verlieren. So haben die USA bis heute auf Noch-Präsidenten Maduro ein Kopfgeld von 15 Mio. US Dollar ausgeschrieben.

Kuppe und Waldmüller stimmen letztlich überein: „Als wesentliche Frage bleibt offen, ob ein bestimmter Wahlausgang das grundsätzliche strukturelle Problem der venezolanischen Politik und Ungleichheit verändern wird oder kann.“ Die Verflechtung der politischen Kräfte dieses Landes mit Militär und paralegalen Sicherheitskräften, mit illegaler Ökonomie, Schattenwirtschaft und weitgehend mit organisierter Kriminalität, wirkt vor allem im Hintergrund quer durch das Parteienspektrum. Selbst die Wahl integrer Persönlichkeiten kann nicht als Garantie angesehen werden, die zähen und kaum durchdringbaren wirksamen Verflechtungen außerhalb von offizieller Wirtschaft und Politik aufzubrechen.

Der Forschungsverbund Lateinamerika (FVB) der Universität Wien begleitet empirisch, aus politikwissenschaftlicher und rechtlicher Sicht, die Lebensrealitäten in und um Venezuela seit vielen Jahren. Daher bietet der FVB gerne seine ExpertInnen Johannes Waldmüller und René Kuppe für weitere Interviewanfragen zu den Wahlen an, und er sucht dafür um Kontaktaufnahme.

MMag. PhD Johannes Waldmüller ist Politikwissenchaftler und forscht zu Menschenrechtspolitik im andinen Lateinamerika, zu Internationaler Umwelt- und Katastrophenschutzpolitik, Ethik der grünen Transitionen und Nachhaltigkeit sowie zu den Themen Forschung, Technologie und Innovation bzw. Entwicklungszusammenarbeit in Nord-Süd-Beziehungen (insb. EU-Lateinamerika/Karibik). Er ist Teil des Forschungsverbunds Lateinamerika (FVB) der Universität Wien. johannes.waldmueller@univie.ac.at

ao. Univ.-Prof. Dr. René Kuppe ist Jurist und Kulturanthropologe. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Rechtsfragen, die mit indigenen Völkern und ethnischen Minderheiten in Zusammenhang stehen. Kuppe hat als Konsulent an internationalen Projekten mitgewirkt, bei denen es um Gesetzgebungsvorhaben oder um die Implementierung von Landrechen Indigener Völker in Lateinamerika oder im Arktischen Raum ging. Er ist Teil des Forschungsverbunds Lateinamerika (FVB) der Universität Wien. rene.kuppe@univie.ac.at

Rückfragen:
Dr. Alexander Behr
Diskurs. Das Wissenschaftsnetz

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office@diskurs-wissenschaftsnetz.atIngrid Fankhauser, MA
Koordinatorin des Forschungsverbunds Lateinamerika
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