Amnesty International dokumentiert Aussagen von Familienangehörigen weiterer fast 50 willkürlich in Xinjiang Inhaftierter. Bericht des UN-Hochkommissariats trotz kürzlichem Chinabesuch wurde noch immer nicht veröffentlicht.
Wien/London, 06.07.2022 – Amnesty International liegen neue Aussagen der Familienangehörigen von 48 weiteren Uigur*innen und Kasach*innen vor, die das Grauen der Inhaftierung in der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang in China beschreiben. Die Organisation fordert die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, erneut zum Handeln auf.
Michelle Bachelet, die noch bis August im Amt ist, hat den lang ersehnten Bericht über schwere Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang noch immer nicht veröffentlicht und die von den chinesischen Behörden in der Region begangenen Menschenrechtsverstöße nicht ausreichend verurteilt. Aufgrund dieser Verzögerung geht diese Woche erneut eine Sitzung des UN-Menschenrechtsrats zu Ende, ohne dass die Erkenntnisse der Vereinten Nationen über Xinjiang diskutiert werden konnten.
Die neuen Aussagen von Verwandten der Inhaftierten wurden von Amnesty International in die Kampagne Free Xinjiang Detainees aufgenommen. Die Familienangehörigen von insgesamt 120 Personen, die in Xinjiang in Gefängnissen oder Internierungslagern festgehalten werden, berichten nun im Rahmen der Kampagne über ihre Erfahrungen.
„Die Angaben dieser Familien zeigen anschaulich auf, dass in Xinjiang haarsträubende Taten begangen werden, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen. Viele der Gesprächspartner*innen hatten gleich mehrere inhaftierte Familienmitglieder, was das schiere Ausmaß der Menschenrechtsverstöße verdeutlicht. Ein Mann gab an, dass 40 seiner Verwandten inhaftiert seien“, so Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International.
„China geht seit 2017 mit Masseninhaftierungen, Folter und Verfolgung gegen mehrheitlich muslimische Minderheiten in Xinjiang vor. Die schleppende Reaktion der Vereinten Nationen auf diesen dystopischen Albtraum macht die Lage für die Betroffenen und Überlebenden nur noch schlimmer. Wir fordern die chinesische Regierung nach wie vor auf, alle Internierungslager zu schließen und die Praxis des Verschwindenlassens sowie willkürlicher Inhaftierungen und Misshandlungen zu beenden, ob in Gefängnissen oder an anderen Orten. Zudem muss die Verfolgung von Uigur*innen, Kasach*innen und anderen Minderheiten in Xinjiang aufhören.
Die chinesischen Behörden müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Ein wichtiger Schritt hierfür ist die Veröffentlichung des überfälligen Berichts der Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet, der dringend dem UN-Menschenrechtsrat vorgestellt werden muss. Die Menschenrechtskommissarin ist bisher davor zurückgeschreckt, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere schwere Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang zu verurteilen – dies trägt zusätzlich dazu bei, den Betroffenen Gerechtigkeit vorzuenthalten, und ist eine Schande für das UN-System.“
Auseinandergerissene Familien
Amnesty International sprach vor Kurzem persönlich mit in der Türkei lebenden Verwandten von 48 Inhaftierten. Sie beschrieben, wie ihre Familienangehörigen wegen „terrorismusbezogener“ oder anderer konstruierter Vorwürfe festgenommen wurden, offenbar wegen solch banaler Aktivitäten wie Reisen ins Ausland oder dem Bezahlen einer ausländischen Ausbildung für ihre Kinder. Wieder andere wurden offenkundig lediglich aufgrund ihrer Religion oder ethnischen Zugehörigkeit inhaftiert.
Die Kasachin Gulaisha Oralbay beschrieb das Schicksal ihres Bruders Dilshat Oralbay, ein pensionierter uigurischer Journalist und Übersetzer, der 2017 auf Geheiß der chinesischen Behörden aus Kasachstan nach Xinjiang zurückkehrte. Direkt nach seiner Rückkehr wurde sein Reisepass eingezogen und wenige Monate später wurde er festgenommen.
„Es gab keine Gerichtsentscheidung, sie steckten ihn einfach ins Gefängnis und sagten, es sei für 25 Jahre“, so Gulaisha Oralbay. „Ich glaube, nicht mal er selbst kennt den Grund. Jemand sagte, es sei, weil er nach Kasachstan gereist war, und ähnliche Ausflüchte. Es gibt keine klare Rechtfertigung oder Begründung.“
Die beiden Schwestern von Gulaisha und Dilshat Oralbay, Bakytgul und Bagila Oralbay, befinden sich ebenfalls in Haft.
Abdullah Rasul sagte Amnesty International, dass sein Bruder Parhat Rasul, ein uigurischer Bauer und Metzger, im Mai 2017 festgenommen und in ein Internierungslager gebracht wurde. Seitdem hat seine Familie keinen direkten Kontakt mehr zu ihm gehabt, doch 2018 erfuhren sie von einer zuverlässigen Quelle, dass Parhat Rasul zu neun Jahren Haft verurteilt worden sei.
Die Familie von Parhat Rasul ist der Überzeugung, dass er nur deshalb festgenommen wurde, weil er praktizierender Moslem ist, der sich gemeinnützig engagierte. Laut Angaben der Familienangehörigen wurden auch seine Frau Kalbinur und seine Schwiegermutter Parizat Abdugul in Haft genommen. Parhat Rasul und Kalbinur haben zwei 14- und 16-jährige Töchter und einen elfjährigen Sohn.
„Sie [die chinesische Regierung] wollen unsere Identität, Kultur und Religion auslöschen“, so Abdullah Rasul. „Ich hoffe, dass alle deutlich sehen können, was in unserem Heimatland passiert.“
Medine Nazimi beschrieb das letzte Mal, als sie die Stimme ihrer Schwester Mevlüde Hilal hörte, Ende des Jahres 2016. Mevlüde Hilal hatte zuvor in der Türkei studiert, kehrte dann aber nach Xinjiang zurück, um ihre kranke Mutter zu unterstützen. Im Jahr 2017 wurde sie in ein Internierungslager gebracht und später offenbar wegen „Separatismus“ zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Sie ist verheiratet und hat eine kleine Tochter.
„Als meine Schwester festgenommen wurde, war meine Nichte Aisha erst ein Jahr alt“, sagte Medine Nazimi. „Wir haben einfach nur unser Leben gelebt und waren eine glückliche Familie. Meine Schwester wurde nur aus einem einzigen Grund inhaftiert: weil sie Uigurin ist.“
Wer die Situation anprangert, setzt sich einem großen Risiko aus. Mehrere Familienangehörige von Inhaftierten beschrieben, wie sie von den Behörden bedroht wurden, weil sie sich öffentlich geäußert hatten.
Abudurehman Tothi, ein in der Türkei lebender uigurischer Geschäftsmann und Aktivist, gab internationalen Medien ein Interview über die Inhaftierung seiner Frau und seiner Mutter und über die willkürliche Festnahme seines Vaters. Er sagte Amnesty International, dass er daraufhin von Vertreter*innen des chinesischen Konsulats in der Türkei kontaktiert und mit Inhaftierung oder dem Tod bei einem „Autounfall“ bedroht wurde.
Umfassende Beweislage
Das brutale Vorgehen der chinesischen Regierung gegen Uigur*innen, Kasach*innen und andere vornehmlich muslimische ethnische Minderheiten in Xinjiang unter dem Deckmantel der „Terrorismusbekämpfung“ wird seit 2017 umfassend dokumentiert.
Amnesty International veröffentlichte 2017 einen Bericht, in dem aufgezeigt wird, dass die chinesischen Behörden systematisch auf Masseninhaftierungen, Folter und Verfolgung zurückgreifen, und dass es sich hierbei um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt.
Für Interviewanfragen und Rückfragen wenden Sie sich bitte an presse@amnesty.at.