Sperrfrist: 2. September 2020, 01.01 Uhr MESZ (frei für Mittwochausgaben)
Amnesty International berichtet von weit verbreiteter Folter, hunderten unfairen Gerichtsverfahren aufgrund haltloser Anklagen wegen Verstößen gegen die nationale Sicherheit und Todesurteilen nach unter Folter erpressten „Geständnissen”.
London / Wien, am 2. September 2020 – Im Iran haben Polizei, Geheimdienst, andere Sicherheitskräfte und Gefängnisbedienstete schockierende Menschenrechtsrechtsverletzungen an Gefangenen verübt, die im Zusammenhang mit den landesweiten Protesten im November 2019 festgenommen wurden. Gedeckt wurden diese Taten von Richter*innen und Vertreter*innen der Staatsanwaltschaft. Zu den in einem neuen Bericht von Amnesty International dokumentierten Menschenrechtsverletzungen zählen willkürliche Inhaftierungen, Verschwindenlassen sowie Folter und andere Misshandlungen.
Der Bericht Trampling humanity: Mass arrests, disappearances and torture since Iran’s 2019 November protests enthält erschütternde Berichte von Dutzenden Protestierenden, Passant*innen und anderen Menschen. Sie berichteten, dass sie unter Einsatz von Gewalt festgenommen wurden, dem Verschwindenlassen zum Opfer fielen oder ihnen jeglicher Kontakt zur Außenwelt verwehrt wurde. Auch wurde ihnen während der Verhöre die Anwesenheit von Rechtsbeiständen systematisch verweigert und sie wurden immer wieder gefoltert, um „Geständnisse“ von ihnen zu erpressen. Diese Gefangenen gehören zu den 7.000 Männern, Frauen und Kindern, die im Kontext der brutalen Unterdrückung der Proteste vom November 2019 festgenommen wurden. Amnesty International liegen zudem die Namen und weitere Informationen von mehr als 500 Prostestierenden und anderen Personen vor, darunter Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen, die im Zusammenhang mit den Protesten unfairen Verfahren ausgesetzt waren.
Amnesty International hat umfassende Interviews mit 60 Betroffenen von willkürlicher Festnahme, Verschwindenlassen, Folter und anderen Misshandlungen bzw. deren Verwandten oder engen Bekannten geführt, zudem mit zwei Protestierenden, die sich versteckt halten, und 14 weiteren Personen, die Kenntnisse über das Geschehen hatten. Außerdem lagen Amnesty schriftliche Stellungnahmen von mehreren Hundert Menschen im Iran, sowie die Analyse von Videoaufnahmen, Stellungnahmen der Behörden und Gerichtsunterlagen vor.
In allen von Amnesty International dokumentierten Fällen berichteten die Betroffenen von verschiedenen Formen psychologischer Folter zur Erzwingung von „Geständnissen”, darunter erniedrigende Beleidigungen und Obszönitäten, die Einschüchterung und Drangsalierung von Familienangehörigen, Drohungen, Verwandte – einschließlich der betagten Eltern oder Geschwister – zu inhaftieren, zu foltern, zu töten oder ihnen anderweitig Schaden zuzufügen und die Androhung von Vergewaltigung der Gefangenen selbst oder deren weiblicher Angehöriger.
Zu den Betroffenen gehörten sogar zehnjährige Kinder und verletzte Protestierende und Passant*innen, die in Krankenhäusern festgenommen wurden, wo sie gerade ihre Schussverletzungen behandeln lassen wollten. Betroffen waren auch Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen und Personen, die an Gedenkveranstaltungen für bei den Protesten Getötete teilgenommen hatten.
Seitdem sind Hunderte Menschen nach in höchstem Maße unfairen Prozessen zu Haft- und Prügelstrafen und mehrere zum Tode verurteilt worden. Die Verfahren fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit und dem Vorsitz von voreingenommenen Richter*innen statt, oft dauerten sie nicht einmal eine Stunde und basierten in den meisten Fällen auf durch Folter erlangten “Geständnissen”.
„In den Tagen nach den Massenprotesten war die Welt über Videoaufnahmen schockiert, die zeigten, wie Irans Sicherheitskräfte vorsätzlich unbewaffnete Protestierende und Passanten töteten oder verletzten. Viel weniger sichtbar war die Liste der Grausamkeiten, denen die iranischen Behörden Gefangene und deren Familien hinter verschlossenen Türen aussetzen”, erklärt Diana Eltahawy, stellvertretende Direktorin für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International.
„Anstatt die Vorwürfe über Fälle von Verschwindenlassen, Folter und andere Misshandlungen und weitere Menschenrechtsverletzungen gegen Gefangene zu untersuchen, haben sich Angehörige der iranischen Staatsanwaltschaft an der Kampagne der Unterdrückung beteiligt. Sie erhoben Anklagen wegen Verstößen gegen die nationale Sicherheit gegen Hunderte Personen erhoben, die lediglich ihre Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wahrgenommen hatten. Richter*innen fällten Schuldsprüche auf Grundlage unter Folter erpresster „Geständnisse“ fällten. Diese lange Reihe an Verbrechen und Verstößen, die in uneingeschränkter Straflosigkeit begangen werden konnten, wurden von zahlreichen im Fernsehen gezeigten Propaganda-Videos von „Geständnissen“ und grotesken Stellungnahmen hochrangiger Behördenvertreter*innen begleitet, die den Geheimdienst und die Sicherheitskräfte für ihre Rolle beim brutalen Vorgehen gegen die Proteste lobten.“
Die Haftstrafen gegen die Verurteilten lagen zwischen einem Monat und zehn Jahren. Die Schuldsprüche bezogen sich auf vage und fadenscheinige Anklagepunkte, darunter „Versammlung und Vereinbarung von Straftaten gegen die nationale Sicherheit”, „Verbreitung von Propaganda gegen das System”, „Störung der öffentlichen Ordnung” oder „Beleidigung des Obersten Religionsführers“. Mindestens drei Angeklagte, Amirhossein Moradi, Mohammad Rajabi und Saeed Tamjidi, wurden wegen „Feindschaft zu Gott” (moharebeh) durch Vandalismustaten zum Tode verurteilt. Einem weiteren Angeklagten, Hossein Reyhani, droht ein Gerichtsverfahren auf der Grundlage von Anklagen, die ebenfalls mit dem Tod bestraft werden können.
Die Recherchen von Amnesty International haben ergeben, dass viele Inhaftierte über Wochen oder sogar Monate „verschwunden” waren, während sie in geheimen Einrichtungen der Sicherheitskräfte oder der Geheimdienste, einschließlich des Geheimdienstministeriums und der Revolutionsgarden, festgehalten wurden. Andere Gefangene waren in überbelegten Gefängnissen oder Polizeiwachen, Militärkasernen, Sportstätten oder Schulen inhaftiert.
Besorgte Familienangehörige erzählten Amnesty International, dass sie sich in Spitälern, Leichenschauhäusern, auf Polizeiwachen, bei der Staatsanwaltschaft und Gerichten sowie Gefängnissen und anderen Hafteinrichtungen nach ihren vermissten Verwandten erkundigten. Die Behörden hätten sich allerdings geweigert, ihnen Informationen über das Schicksal oder den Verbleib ihrer Angehörigen zu geben. Stattdessen habe man ihnen gedroht, sie festzunehmen, falls sie sich weiter erkundigten oder die Fälle öffentlich machten.
Amnesty International fordert die Mitgliedstaaten des UN-Menschenrechtsrats auf, gegen die anhaltende systematische Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen im Iran vorzugehen. Dazu gehört auch die Unterstützung einer von den UN geleiteten Untersuchung, um sicherzustellen, dass die Verantwortlichen ermittelt und vor Gericht gestellt werden und sich solche Taten nicht wiederholen.
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