PA: Appell an die UN: Einrichtung eines unabhängigen Ermittlungsmechanismus in Afghanistan

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Amnesty International fordert, dass die anhaltenden „erbarmungslosen Menschenrechtsverstöße“ der Taliban im UN-Menschenrechtsrat behandelt werden. Beweissicherung sei die Grundlage für internationaler Gerechtigkeit.

London / Wien (6.3.2023) Anlässlich des neuen Berichts des UN-Sonderberichterstatters zur Lage der Menschenreche in Afghanistan im Zuge der heute stattfindenden Sitzung des UN-Menschenrechtsrats fordert Amnesty International die UN-Mitgliedstaaten auf, ein Ende der Straflosigkeit anzustreben und Gerechtigkeit für die Betroffenen von Menschenrechtsverstößen durch die Taliban zu gewährleisten. Der UN-Menschenrechtsrat muss dringend und möglichst bald einen unabhängigen Ermittlungsmechanismus in Afghanistan einrichten, der sich auf die Beweissicherung konzentriert, um internationale Gerechtigkeit anzustreben. Ähnlich wie in Ländern wie Äthiopien, dem Iran und Myanmar sollte ein solcher Mechanismus mit einem mehrjährigen Mandat sowie Mitteln ausgestattet werden, um für die im ganzen Land verübten Menschenrechtsverletzungen und -verstöße Beweise zu finden, zu sammeln und zu dokumentieren.

Rasant verschlechternde Menschenrechtslage

In den vergangenen Monaten haben die Taliban zahlreiche Frauenrechtler*innen, Akademiker*innen und Aktivist*innen rechtswidrig inhaftiert. Viele wurden willkürlich festgenommen, ohne Rechtsbehelf oder Zugang zu ihren Angehörigen. Vermutlich wurden sie inhaftiert, weil sie öffentlich die Politik der Taliban kritisiert haben. „Die Menschenrechtslage in Afghanistan verschlechtert sich rasant und die erbarmungslosen Menschenrechtsverstöße der Taliban gehen Tag für Tag weiter“, sagte Agnès Callamard, die internationale Generalsekretärin von Amnesty International. „In letzter Zeit wurden Personen, die sich in der Öffentlichkeit kritisch über die missbräuchlichen Vorschriften der Taliban geäußert haben, ohne Angabe von Gründen festgenommen. Außerdem schränkten die Taliban weiterhin die Rechte von Frauen und Mädchen ein und konnten Angehörige der ethnischen Hazara gezielt töten, ohne dafür belangt zu werden. Es ist offensichtlich, dass die Taliban weder bereit noch imstande sind, Handlungen ihrer Mitglieder zu untersuchen, die die Menschenrechte der afghanischen Bevölkerung schwer verletzen.“

 Sammeln und Sichern von Beweisen für Gerechtigkeit

„Auch wenn der Sonderberichterstatter unter extrem schwierigen Bedingungen weiter wertvolle Arbeit leistet, ist jetzt mehr erforderlich, um der gewaltigen Herausforderung gerecht zu werden, die Menschenrechtsverstöße in Afghanistan zu dokumentieren. Dazu muss dringend eine Ermittlungsmission eingerichtet werden, die sich auf das Sammeln und Sichern von Beweisen konzentriert, um für Gerechtigkeit zu sorgen.“

Während der UN-Sonderberichterstatter prinzipiell damit betraut ist, kontinuierliche Menschenrechtsverstöße zu dokumentieren, bestünde ein zentraler Beitrag des geforderten Mechanismus darin, die Fakten und Umstände schwerwiegender Verstöße abzuklären, potenzielle Straftäter*innen zu identifizieren sowie für die zukünftige strafrechtliche Verfolgung im Rahmen der internationalen Gerichtsbarkeit Beweise zu sichern und dokumentieren. Ein solcher Mechanismus ist unerlässlich, um zu gewährleisten, dass Straftaten nach dem Völkerrecht sowie Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan nicht der internationalen Kontrolle entgehen, sowie zu gewährleisten, dass alle diejenigen, die strafrechtlicher Verantwortung verdächtig sind, in fairen Gerichtsverfahren vor ordentlichen Zivilgerichten oder internationalen Strafgerichten zur Rechenschaft gezogen werden.

HINTERGRUND – jüngste Entwicklungen

Nachdem die Taliban im August 2021 die Kontrolle über Afghanistan übernommen hatten, erklärten sie, die Menschenrechte in Afghanistan wahren und respektieren zu wollen. Amnesty International hat jedoch seit damals wiederholt von Taliban verübte Verbrechen gegen das Völkerrecht sowie Menschenrechtsverletzungen dokumentiert.

In jüngster Zeit kam es zu einer Festnahmewelle, bei der unter anderem die Frauenrechtlerin Narges Sadat, Professor Ismail Mashal, ein Verfechter von Bildung für Frauen, der Bürgerrechtler Fardin Fedayee, der Autor und Aktivist Zekria Asoli, der afghanisch-französische Journalist Mortaza Behboudi, der frühere Senator Qais Khan Wakili und der afghanische Journalist Muhammad Yar Majroh inhaftiert wurden. Aktuell geht Amnesty International davon aus, dass lediglich Professor Mashal inzwischen wieder freigekommen ist. Bei vielen Inhaftierungen gibt es keine Informationen über den Grund für die Festnahme der betreffenden Personen, und deren Aufenthaltsort bleibt häufig unbekannt, was dem Verschwindenlassen gleichkommt.

Neue Beweise für Verbrechen in Pandschschir

Nach wie vor gibt es auch zahlreiche Menschenrechtsverstöße gegen Zivilpersonen in Pandschschir – darunter Entführungen und Verschwindenlassen –, da der Konflikt zwischen den Taliban und der Nationalen Widerstandsfront von Afghanistan (NRF) anhält. Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International hat Fotos und Videos von mindestens acht Vorfällen für authentisch erklärt, die zwischen Mai und August 2022 in den Sozialen Medien gepostet worden waren und auf denen zu sehen ist, wie große Gruppen von Männern in Pandschschir willkürlich von den Taliban festgenommen und ohne Gerichtsverfahren inhaftiert werden. Insgesamt zeigen diese Videos mindestens 87 Personen in verschiedenen Stadien des Inhaftierungsprozesses, die meisten von ihnen mit gefesselten Händen. In einem Video erklärt ein Kämpfer der Taliban: „Wenn es nach mir ginge, würde ich sie gleich hier töten.“

Hartes Durchgreifen gegen Frauen und Mädchen sowie Angriffe auf ethnische Minderheiten

Bereits in einem Juli 2022 veröffentlichten Bericht dokumentierte Amnesty International, wie die Leben von Frauen und Mädchen in Afghanistan durch die Taliban zerstört werden. Ihr Recht auf Bildung, Arbeit und Bewegungsfreiheit wird dauernd verletzt, die Möglichkeiten für Schutz und Unterstützung bei häuslicher Gewalt wurden massiv reduziert, Frauen und Mädchen wurden wiederholt und laufend wegen geringfügiger Nichteinhaltung diskriminierender Vorschriften inhaftiert und das System hat zu einem Anstieg der Zahl von Kinder-, Früh- und Zwangsehen in Afghanistan beigetragen.

Auch die Angriffe auf ethnische Minderheiten gehen unvermindert weiter. In drei Fällen hat Amnesty Massentötungen von Hazara durch die Taliban in den Provinzen Ghazni, Ghor und Daikondi untersucht, die Kriegsverbrechen gleichkommen könnten. In allen drei Fällen haben die De-facto-Behörden der Taliban in Afghanistan weder Ermittlungen eingeleitet noch die Tatverdächtigen zur Rechenschaft gezogen.

Rückfragehinweis:
Presseteam Amnesty International Österreich
Eleonore Rudnay
+43-664-400 10 56
E-Mail: eleonore.rudnay@amnesty.at