Archiv der Kategorie: Wirtschaft

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PA: Ägypten COP 27 inmitten katastrophaler Menschenrechtslage

Amnesty fordert die Delegierten der COP27 auf, sich zu den schweren Menschenrechtsverletzungen in Ägypten zu äußern.
Ahmed Samir Santawy, Student an der Central European University (CEU) in Wien, wird Ausreise aus Ägypten verweigert.

Die Klimakonferenz findet in einer Situation massiver Repression gegen die Zivilgesellschaft in Ägypten statt. Im Vorfeld der COP27 haben die Sicherheitsbehörden zahlreiche Aktivist*innen verhaftet und sind gewaltsam gegen Proteste vorgegangen. Unabhängig von der Klimakonferenz sitzen tausende nach unfairen Verfahren In ägyptischen Gefängnissen, darunter Menschenrechtsverteidiger*innen, Anwält*innen und Oppositionspolitiker*innen, oder werden durch die Behörden schikaniert.

Auch der ehemalige politische Gefangene Ahmed Samir Santawy, Student an der Central European University (CEU) in Wien, wird die Ausreise aus Ägypten verweigert. Am 30. Juli 2022 wurde er nach 18 Monaten unrechtmäßiger Haft per Präsidentendekret freigelassen. Seitdem haben ihn die ägyptischen Behörden daran gehindert, ins Ausland zu reisen, einschließlich Österreich, wo er sein Studium fortsetzen will.

„Die Behandlung von Ahmed durch die ägyptischen Behörden ist ein Armutszeugnis“, so Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich.

„Nach Monaten unrechtmäßiger Haft wird der junge Student weiterhin daran gehindert, Ägypten zu verlassen. Diese Ungerechtigkeit muss ein Ende haben! Es muss Ahmed endlich möglich sein, nach Österreich zurückzukehren und sein Studium abzuschließen. Wir stehen in voller Solidarität mit Ahmed und fordern die ägyptischen Behörden auf, seine Ausreise sofort zu ermöglichen!“

Ahmed Samir Santawy befand sich seit Februar 2021 als gewaltloser politischer Gefangener in Haft. Er wurde während eines Besuchs bei seiner Familie in Ägypten verhaftet, anschließend geschlagen und verhört. Am 22. Juni 2021 verurteilte das Notstandsgericht für die Sicherheit des Staates Ahmed Samir Santawy zu Unrecht wegen „Verbreitung von Falschmeldungen auf Social Media“ zu vier Jahren Gefängnis.

COP27 in katastrophaler Menschenrechtslage

Die COP27 findet inmitten der Besorgnis über das Versäumnis der ägyptischen Behörden und des UNFCCC statt, unabhängige ägyptische Menschenrechtsgruppen für die COP27 zu akkreditieren. Es besteht die Befürchtung, dass Organisationen und Aktivist*innen nicht frei an der COP27 teilnehmen können, ohne Repressalien während und nach der Konferenz befürchten zu müssen.

Mindestens fünf ägyptische Menschenrechtsorganisationen, darunter die ägyptische Kommission für Rechte und Freiheiten und das Kairo-Institut für Menschenrechtsstudien, haben keine Akkreditierung zur COP27 erhalten. Die Antiterrorgesetzgebung und andere drakonische Gesetze dienen als Mittel zur Unterdrückung. So lässt das ägyptische Versammlungsrecht den Sicherheitskräften freie Hand zum Verbot von Demonstrationen und übermäßiger Gewalt.

Zu den zusätzlichen Hindernissen für eine sinnvolle Beteiligung eines breiten Spektrums von Interessengruppen gehören obligatorische Registrierungsverfahren für den Zugang zur „Grünen Zone“, unerschwingliche Hotelpreise und verstärkte Überwachungs- und Sicherheitskontrollen.

Die Behörden haben Arbeitnehmer*innen ohne Sicherheitsgenehmigung befohlen, die Stadt zu verlassen oder strenge Bewegungsbeschränkungen zu beachten. Die jüngsten Verhaftungen von mindestens 118 Personen bis zum 31. Oktober allein in Kairo im Zusammenhang mit Aufrufen zu Protesten während der COP27 und die Zunahme von stichprobenartigen Polizeikontrollen und illegalen Telefondurchsuchungen nach kritischen Inhalten sind eine düstere Erinnerung an die allgegenwärtige Unterdrückung der Zivilgesellschaft in Ägypten.

Unabhängig von der Klimakonferenz sitzen mindestens 22 Journalist*innen in Haft und mehr als 600 Webseiten werden zensiert. Tausende werden nach unfairen Verfahren willkürlich gefangen gehalten, darunter Menschenrechtsverteidiger*innen, Anwält*innen und Oppositionspolitiker*innen. Die entsetzlichen Bedingungen in den ägyptischen Gefängnissen verstoßen mitunter gegen das Folterverbot.

Amnesty Delegation bei COP27

Die Generalsekretärin von Amnesty International, Agnès Callamard, wird vom 6. bis 18. November 2022 an der UN-Klimakonferenz (COP27) in Sharm El-Sheikh teilnehmen und steht für Interviews über die Notwendigkeit, die Menschenrechte in den Mittelpunkt von Klimabeschlüssen zu stellen, sowie über die aktuelle Menschenrechtskrise in Ägypten zur Verfügung.

Im Vorfeld ihres Besuchs sagte Agnès Callamard:

„Wir haben nicht mehr den Luxus von Zeit, wenn es um die globale Klimakrise geht. Das Zeitfenster, um den Anstieg der globalen Durchschnittstemperaturen unter 1,5°C zu halten, schließt sich rapide und die Welt wird mit Überschwemmungen, Dürren und Bränden konfrontiert, was zu Vertreibung und Hungersnöten sowie zu weiteren Konflikten und Todesopfern führt. Die COP27 ist eine entscheidende Gelegenheit, diesen Kurs umzukehren, und darf nicht in einem Theater der leeren Versprechungen und des Greenwashings verspielt werden.“

„Der Klimawandel ist eine Menschenrechtskrise, und die Einhaltung aller Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung, friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit, ist der Schlüssel zur Sicherung eines raschen und gerechten Übergangs zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft und widerstandsfähigen Gesellschaft.“

“Kein Staat kann von sich behaupten, ein glaubwürdiger Akteur bei der Bewältigung der Klimakrise zu sein, wenn er die Zivilgesellschaft weiterhin im Würgegriff hält. Die ägyptischen Behörden haben eine ganze Reihe von Verbrechen nach internationalem Recht begangen, darunter Folter, rechtswidrige Tötungen und das Verschwindenlassen von Personen. Nahezu alle unabhängigen und kritischen Stimmen im Land sind zum Schweigen gebracht worden.”

Amnesty International wird die polizeiliche Bekämpfung der Proteste durch die ägyptischen Behörden sowie die Behandlung von Umweltaktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen während und nach der COP27 und etwaige Repressalien gegen sie genau beobachten.

Die Organisation hat sich um Treffen mit den ägyptischen Behörden bemüht und um Zugang zu den Gefängnissen gebeten, in denen Tausende von Menschen aus politisch motivierten Gründen inhaftiert sind. Die entsetzlichen Bedingungen in den ägyptischen Gefängnissen verstoßen mitunter gegen das Folterverbot.

Amnesty International fordert die Delegierten der Staaten auf, ihre Menschenrechtsanliegen gegenüber den ägyptischen Behörden im Einklang mit den Forderungen der unabhängigen ägyptischen Menschenrechtsgruppen in dieser Petition vorzubringen.

Vor der Eröffnung der COP27 veröffentlicht Amnesty International einen Bericht, in der sie ihre wichtigsten Forderungen und Menschenrechtsanliegen im Zusammenhang mit der Klimakrise darlegt.

Rückfragehinweis:
Presseteam Amnesty International Österreich
Antonio Prokscha
+43-664-621 10 31
E-Mail: antonio.prokscha@amnesty.at

PA: 8. Österreichische Entwicklungstagung: Südwind adressiert globale Ungleichheiten

Vom 11. bis 13. November sind inspirierende Vortragende aus Indien, Brasilien, Uganda, Botswana und der Ukraine zu Gast in Linz – Südwind legt Fokus auf fairen Konsum und menschenwürdige Erntearbeit

Klimakrise, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg und Inflation – jede neue Krise verschärft bereits vorhandene globale Ungleichheiten. Die 8. Österreichische Entwicklungstagung vom 11. bis 13. November in Linz, organisiert vom Paulo Freire Zentrum, adressiert die wachsenden Ungleichheitsraten und diskutiert mögliche Gegenstrategien. Es ist das Gebot der Stunde, die multiplen Krisen in den Ländern des Globalen Südens abzumildern“, sagt Lisa Aigelsperger von Südwind Oberösterreich. „Um eine weitere politische, wirtschaftliche und soziale Destabilisierung zu verhindern, braucht es einen engen Dialog zwischen Nord und Süd und eine echte Mitsprache der Hauptbetroffenen auf allen Ebenen.“ Die Entwicklungstagung versammelt Vortragende aus Indien, Brasilien, Uganda, Botswana, der Ukraine und Deutschland. Neben Keynotes geben interaktive Workshops und Diskussionsforen die Möglichkeit, die verschiedenen Ebenen von globaler Ungleichheit zu diskutieren. In jedem Forum wirkt mindestens ein*e Referent*in aus dem Globalen Süden mit.

„Auf der Entwicklungstagung werden die brennenden Fragen der aktuellen Lage der Welt diskutiert; alles kommt wie unter einem Brennglas zusammen. Es ist wichtig, dass sich engagierte Organisationen der Zivilgesellschaft mit Wissenschafter*innen und den Mitarbeiter*innen der öffentlichen Verwaltung darüber austauschen, wie die globale Schieflage wirksam reduziert werden kann“, so Gerald Faschingeder, Direktor des Paulo Freire Zentrums.

Faire Produkte und faire Ernte im Fokus der Südwind-Arbeit

Die Menschenrechtsorganisation Südwind ist mit zwei Workshops bei der Entwicklungstagung vertreten.

Samstag, 12. November, 11.15 Uhr bis 13 Uhr: „Nachhaltige Regionalentwicklung am Beispiel »Faire Welt« und »Faire Wochen online«“

COVID-19 hat unser aller Alltag verändert. Die Fairen Wochen, ein Aktionsformat im Zeichen des fairen Handels, wurden im Frühjahr 2020 kurzerhand für eine Online-Durchführung adaptiert und Webinare für Schulklassen konzipiert. Globales Lernen im digitalen Zeitalter ist eine Herausforderung und bietet gleichzeitig Potenzial für Vernetzung und neue Blickwinkel. Die Pandemie verdeutlicht die Notwendigkeit kritischer Weltbürger*innen mit digitalen Kompetenzen.

Samstag, 12. November, 11.15 Uhr bis 13 Uhr: „Wer bringt die Ernte ein?“

Obst und Gemüse aus der ganzen Welt landen auf unseren Tellern: exotisch, frisch und billig. Aber wer zahlt den Preis dafür? Wir werfen einen Blick auf die Lage von Bananenarbeiter*innen in Ecuador und sehen uns auch die Zustände auf europäischen Plantagen an, wo die Arbeitsbedingungen oft nicht besser sind als im Globalen Süden.

Neben Südwind sind Mitarbeiter*innen von zahlreichen Wissenschafts- und Fördereinrichtungen am Programm der 8. Österreichischen Entwicklungstagung beteiligt – u.a. von mehreren Instituten der Universität Wien, von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, von der Austrian Development Agency undaus dem OeAD – Agentur für Bildung und Internationalisierung. 

Weitere Informationen und Anmeldung hier https://entwicklungstagung.at/

Rückfragehinweis:
Südwind Verein für Entwicklungspolitik und globale Gerechtigkeit 
Silvia Haselhuhn
Pressesprecherin 
Mob.: 0680 15 830 16
silvia.haselhuhn@suedwind.at 
www.suedwind.at

Paulo Freire Zentrum
Gerald Faschingeder
Direktor
Tel. +43/1/317 40 17
gerald.faschingeder@paulofreirezentrum.at
https://www.pfz.at

Veranstaltungseinladung: Globale Ungleichheiten – die Entwicklungstagung #ET2022

Zwei VIDC-Foren zu Steuern und Klimagerechtigkeit und eine VIDC-Aktion rund um den EU-„Klimazoll“ am 12. November 2022.

Die ungleiche Verteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen ist kein neues Phänomen. Doch die derzeitigen Krisen verschärfen bereits vorhandene Ungleichheiten. Dazu zählen die durch die COVID19-Pandemie verstärkten Schieflagen, die Klimakatastrophe und die aktuellen militärischen Konflikte wie der Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine.

Diesen globalen Ungleichheiten ist die 8. Österreichische Entwicklungstagung gewidmet. Sie bietet als österreichweit größte Veranstaltung zu Entwicklungspolitik Raum für Debatte und Reflexion – zwischen engagierter Wissenschaft und kritischer Zivilgesellschaft zum einen, und zwischen globalem Norden und Süden zum anderen.

Bei der #ET2022 wird das VIDC in Kooperation mit WIDE zwei Foren gestalten. Ein Forum ist Steuern gewidmet, die Ungleichheiten verstärken aber auch stark vermindern können.

Das zweite Forum widmet sich dem Thema Ungleichheit im Kontext von Migration und Klimawandel. Zu beiden Foren haben wir interessante Expert*innen aus dem Globalen Süden eingeladen. Mehr lesen …

12. November , 14:30 – 19:00 Uhr
Johannes Kepler University Linz, Altenberger Straße 69, 4040 Linz
Anmeldung bis 8. November hier.


Zur Klimadebatte haben wir noch einen anderen Beitrag geleistet: Gemeinsam mit anderen NGOs aus Europa und Afrika haben wir uns in die Verhandlungen um den künftigen EU-„Klimazoll“ eingemischt. Dazu haben wir auch einen brandneuen VIDC Policy Brief veröffentlicht. Mehr dazu hier.

PA: Brasilien zwischen Abgrund und vorsichtiger Hoffnung

Die Brasilianer*innen haben am Sonntag nicht nur die Wahl zwischen zwei Präsidentschaftskandidaten. Das Land steht vielmehr an einem Scheideweg. Führt eine Wiederwahl Bolsonaros zu ungarischen Zuständen? Oder gelingt es Lula da Silva der Entwicklung des größten lateinamerikanischen Landes eine grundlegende Wendung zu geben? Dazu nehmen zwei renommierte Wissenschafter*innen und Brasilien-Expert*innen in der folgenden Pressemitteilung von „Diskurs. Das Wissenschaftsnetz“ Stellung.

[Wien, 27.10.2022] Die beiden Kontrahenten stehen sich zwar zum ersten Mal direkt bei einer Wahl gegenüber, ihre konträren politischen Zielsetzungen sind aber in der politischen Praxis schon vorher kollidiert, wie ein Blick in die jüngste brasilianische Geschichte zeigt.

Die beiden Regierungen von Ex-Präsident Lula da Silva (2003-2011) haben die brasilianische Gesellschaft, die von jahrhundertelanger Sklaverei und von tiefer sozialer und ethnischer Ungleichheit geprägt ist, eine Spur gerechter gemacht. Durch Quotenregelungen an Universitäten und im öffentlichen Dienst, durch neue Lehrpläne, die afrobrasilianische Geschichte in den Unterricht einbeziehen müssen, wurden Sklaverei und struktureller Rassismus stärker thematisiert. Zumindest wurde der nationale Mythos der sogenannten „Rassendemokratie“, des vermeintlich harmonischen Zusammenlebens unterschiedlicher ethnischer Gruppen, erstmals kritisch hinterfragt. Die Sozialtransferprogramme der Regierungen Fernando Henrique Cardoso, Lula und Dilma Rousseff kamen vor der Finanzkrise von 2013 etwa 40 Millionen Menschen zugute.

Ursula Prutsch, Professorin an der LMU-München, verweist darauf, dass die Regierung Bolsonaro die Reformen von Lula offensiv in die Gegenrichtung steuerte: „Sie hat mit ihrer katastrophalen Wirtschaftspolitik und ihrem Versagen im Covid-Management mindestens 30 Millionen Menschen in bittere Armut gedrückt.“ Trotzdem hat Bolsonaro gerade auf dem Land, in Süd- und Westbrasilien und im Amazonas-Gebiet eine große Anhängerschaft, die seinen lockeren Umgang mit Waffen, sein aggressives Auftreten und seine Modernisierungspolitik auf Kosten der Natur gut findet.

„Umweltpolitik spielt in Brasilien, dem Land, das die ‚Pioniere‘, die rücksichtslosen Bezwinger des Urwalds noch immer glorifiziert, eine sehr geringe Rolle,“ so Andreas Novy, Sozioökonom und Leiter des Institute for Multi-Level Governance and Development an der WU Wien. Er meint: „Der zweite Wahldurchgang bleibt spannend. Lula gelang zwar ein ähnlich breites Bündnis wie Van der Bellen vor wenigen Wochen in Österreich. Es ist aber unklar, ob Bolsonaro mit milliardenschwerem Stimmenkauf auf Staatskosten, Fakenews und evangelikaler Unterstützung nicht trotzdem Erfolg haben wird.“

Der erste Durchgang der Wahlen brachte große Erfolge für Bolsonaros Verbündete in den Bundesstaaten und bei den Kongress- und Senatswahlen. Jair Bolsonaro hat damit die Institutionen des Staates sowie die sozialen Medien erfolgreicher als erwartet genutzt, um seine Macht abzusichern. „Gewinnt er auch die Stichwahl, dann könnte dies das Ende der liberalen Demokratie in Brasilien bedeuten: Impeachment unangenehmer Richter, Entlassung regierungskritischer Beamter, vor allem in Justiz und Polizei, Zerschlagung von Wissenschaftseinrichtungen sowie ungeahndete politische Gewalt wären wahrscheinliche nächste Schritte“, so Andreas Novy. Außerdem würde die Amazonaszerstörung fortgesetzt, mit der Aussicht, dass der Regenwald noch früher als befürchtet zur Savanne werden könnte – mit verheerenden Folgen für das Weltklima.

Wiewohl die Chancen weiterhin gut stehen, dass Bolsonaro die Stichwahl verliert, ist damit die Zukunft des brasilianischen Regenwaldes und der indigenen Bevölkerung höchst ungewiss. Sollte Lula die Wahlen gewinnen, wird es nämlich viel Geschick bedürfen, einen Kurswechsel einzuleiten. So stehen im Amazonas fast alle Gouverneure Klimapolitik ablehnend gegenüber.

Besonders wichtig ist laut den beiden Expert*innen, den Rechtsstaat und Wissenschaft zu verteidigen und kurzfristig Löhne und soziale Infrastrukturen zu verbessern. Die Chancen für einen nachhaltigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel sind nach dem ersten Durchgang der Wahlen jedoch deutlich gesunken. Bolsonaros Anhänger erzielten große Erfolge bei den Gouverneurs-, Senat- und Kongresswahlen. Andreas Novy meint dazu: „Lula wird in einer möglichen dritten Amtszeit vor allem bestehende Institutionen der liberalen Demokratie verteidigen müssen. Sein an sich linkes Programm ist stark sozialpartnerschaftlich geprägt und erhielt im zweiten Durchgang breite Unterstützung auch durch Konservative: Viele nehmen trotz ideologischer Differenzen Lulas Einladung an, „ein Stück des Weges gemeinsam zu gehen“ – aus Angst vor Bolsonaro. In diese Richtung wies schon die Wahl des Vizepräsidentschaftskandidaten. Geraldo Alckmin ist ein erfolgreicher konservativer Politiker, der Lula 2006 in der Präsidentschaftswahl unterlag. Jedoch wird es schwierig, gleichzeitig gesellschaftliche Gräben zu überwinden und einen Politikwechsel, vor allem in Umwelt- und Sozialpolitik, rasch einzuleiten. Aus heutiger Sicht ist unklar, ob dies gelingen wird.“

„Außenpolitisch besteht eine der größten Herausforderungen darin, die untergeordnete und zerstörerische Integration Brasiliens in den Weltmarkt zu verändern und der Ausbeutung seiner Ressourcen durch den globalen Norden Grenzen zu setzen“, sagt Novy. Ob und wie dies gelingen soll, ist fraglich. Auch Ursula Prutsch weist auf die Herausforderungen und Begrenzungen eines möglichen dritten Lula-Projektes hin: „Lula muss den massiven Umweltzerstörungen Einhalt gebieten und den Militärs entgegenkommen, die im Amazonasraum institutionell und sicherheitspolitisch sehr präsent geworden sind – möglicherweise durch Posten oder Rüstungskäufe wie 2009.“ Und weiter: „Lula, der mit Parteien der Mitte und wirtschaftsliberalen Parteien eine Koalition eingehen wird, müsste dafür sorgen, dass die Arbeiterpartei PT weniger bevormundend von oben agiert, ethnisch inklusiver wird und wieder stärker basisdemokratisch agiert. Außenpolitisch müsste er versuchen, das Image Brasiliens als diplomatische Verhandlungsmacht zwischen großen Industrienationen und dem sogenannten ‚globalen Süden‘ zu rehabilitieren, das Brasilien international Wertschätzung gebracht hat.“

Ursula Prutsch studierte Geschichte und Spanisch in Graz und habilitierte sich an der Universität Wien. Sie forscht und lehrt lateinamerikanische und US-amerikanische Geschichte am Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München: ursula.prutsch@lmu.de

Andreas Novy ist Sozioökonom und leitet das Institute for Multi-Level Governance and Development an der WU Wien. Er forscht unter anderem zu Lateinamerika und Brasilien sowie zu Fragen sozial-ökologischer Transformation und sozioökonomischer Entwicklung: andreas.novy@wu.ac.at

Rückfragehinweis:
Dr. Alexander Behr
Diskurs. Das Wissenschaftsnetz
+43 650 34 38 37 8
alexander.behr@univie.ac.at

Danyal Maneka, BA MA
Diskurs. Das Wissenschaftsnetz
+43 650 30 11 273
maneka@diskurs-wissenschaftsnetz.at

PA: Katar: Einen Monat vor WM weiterhin zahlreiche Menschenrechtsverletzungen, Entschädigungsforderungen bleiben offen

Einen Monat vor dem Anpfiff der Fußball-WM sind Menschenrechtsverletzungen in Katar weiterhin weit verbreitet, so Amnesty International am 20.10. in einem neuen Bericht. Die katarischen Behörden müssen die versprochenen Arbeitsreformen im Anschluss an die WM und darüber hinaus einhalten, fordert die Menschenrechtsorganisation.

In einem kürzlich erschienen Statement fordern zahlreiche NGOs, darunter auch Amnesty International, die FIFA erneut auf, einen Entschädigungsfonds für Arbeitsmigrant*innen einzurichten. Bislang gibt es von Seiten der FIFA jedoch kein Bekenntnis, die Menschenrechtsverletzungen, die im Vorfeld der WM in Katar begangen wurden, angemessen zu entschädigen.

Die Überarbeitung des katarischen Arbeitssystems hat seit 2017 zu einigen merklichen Verbesserungen für die zwei Millionen im Land arbeitenden Arbeitsmigrant*innen geführt; Hunderttausende von ihnen arbeiten in Projekten, die für die Fußball-WM wichtig sind. Dennoch untergräbt ein Mangel an effektiver Umsetzung und Durchsetzung der Reformen die positiven Auswirkungen auf die Arbeitsmigrant*innen.

So sehen sich Tausende Arbeiter*innen auf Baustellen mit oder ohne WM-Bezug immer noch Problemen gegenüber wie verspäteten oder gar nicht gezahlten Löhnen, dem Wegfall von Ruhetagen, unsicheren Arbeitsbedingungen, Behinderungen bei einem Jobwechsel sowie wenigen Möglichkeiten, gegen all diese Verstöße rechtliche Schritte einleiten zu können. Tausende von Todesfällen von Arbeitsmigrant*innen sind weiterhin ungeklärt.

„Obwohl Katar in den vergangenen fünf Jahren wichtige Schritte in Richtung einer Verbesserung der Rechte der Arbeitsmigrant*innen gemacht hat, ist es ganz offensichtlich, dass man hier bei weitem noch nicht stehenbleiben kann. Tausende Arbeitsmigrant*innen befinden sich wegen legaler Schlupflöcher und unzureichender Reformumsetzungen immer noch in der allzu bekannten Spirale von Ausbeutung und Missbrauch“, sagt Steve Cockburn, Leiter des Bereichs wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit bei Amnesty International.

Amnesty International fordert die katarischen Behörden eindringlich auf, die Arbeitsschutzmaßnahmen zu verbessern und durchzusetzen, die Rechte der Arbeitsmigrant*innen zu stärken, fairen Lohn für die geleistete Arbeit zu zahlen und den Zugang zur Justiz und zu Entschädigungen zu ermöglichen.

„Trotz der großen und wachsenden Unterstützung von Fans, Fußballvereinen und Sponsor*innen für die Entschädigung von Arbeitsmigrant*innen, bewegt sich weder in Katar noch bei der FIFA etwas. In einem Monat beginnt die Fußball-WM und für Katar und die FIFA wird die Zeit, um noch das Richtige zu tun, schnell knapp“, sagt Steve Cockburn.

Weitreichende Menschenrechtsverstöße

Arbeitsmigrant*innen, die an Projekten mit und ohne WM-Bezug arbeiten, sehen sich in Katar weiterhin weitreichenden Menschenrechtsverstößen und Ausbeutung gegenüber. Viele Arbeitsmigrant*innen, besonders Hauspersonal in Privathaushalten und Mitarbeiter*innen im privaten Sicherheitssektor, arbeiten unter Bedingungen, die teilweise Zwangsarbeit gleichkommen.

Hausangestellte arbeiten typischerweise zwischen 14 und 18 Stunden am Tag, ohne einen wöchentlichen Ruhetag und sind in den Privathaushalten von der Außenwelt abgeschottet. Privaten Sicherheitsmitarbeiter*innen wird außerdem oft wiederholt der Ruhetag gestrichen und sie sind gezwungen, unter Androhung von Strafe zu arbeiten. Zu den angedrohten Strafen zählen willkürliche Lohnkürzungen und die Beschlagnahmung des Reisepasses, obwohl solche Praktiken gegen das katarische Recht verstoßen. Arbeitsmigrant*innen bleibt es weiter versagt, Gewerkschaften zu gründen oder sich solchen anzuschließen, obwohl dies ihnen unter internationalem Recht zusteht.

Ungeklärte Todesfälle

Nach wie vor ungeklärt sind Tausende von Todesfällen von Arbeitsmigrant*innen der letzten zehn Jahre und darüber hinaus, die sich teils auf WM-Baustellen sowie außerhalb zugetragen haben. Wahrscheinlich sind Hunderte dieser Fälle zurückzuführen auf das Arbeiten in der sengenden Hitze Katars. Die neuen gesetzliche Bestimmungen zum Schutz vor Hitze stellen eine Verbesserung dar, müssen aber weiter gestärkt werden, um sie internationalen Standards anzupassen und so für adäquaten Schutz der im Freien Arbeitenden zu sorgen.

Trotz klarer Beweise für Hitze als großes Gesundheitsrisiko haben die katarischen Behörden, obwohl es international so üblich wäre, bislang wenig getan, um die Todesfälle von Arbeitsmigrant*innen, die mit der Hitze in Verbindung stehen könnten, zu untersuchen, die Todesursache zu bestätigen oder Entschädigungen an die Angehörigen zu zahlen.

Weit verbreitet ist außerdem, dass zukünftige Arbeitsmigrant*innen erpresserische Vermittlungsgebühren zahlen, um sich so einen Job in Katar zu sichern. Gebühren von 1.000 bis 3.000 Euro sorgen dafür, dass viele Arbeitsmigrant*innen Monate oder gar Jahre brauchen, ihre Schulden abzubezahlen, wodurch sie in einer Spirale der Ausbeutung gefangen sind.

Wichtige Änderungen des Kafala-Systems – das eine komplette Abhängigkeit der Arbeitsmigrant*innen von ihren Arbeitgeber*innen mit sich brachte – bedeuten, dass nun die Mehrheit der Arbeitsmigrant*innen das Recht hat, auch ohne Erlaubnis ihrer Arbeitgebenden das Land verlassen und die Arbeitsstelle wechseln zu dürfen. Jedoch besteht für die Arbeitsmigrant*innen weiterhin die Gefahr, festgenommen oder des Landes verwiesen zu werden, falls ihr*e Arbeitgeber*in ihr Visum storniert, ihre Aufenthaltsgenehmigung nicht erneuert oder sie bei den Behörden anzeigt wegen „unerlaubten Verlassens des Arbeitsplatzes“.

Die katarische Regierung meldet, sie habe seit Oktober 2020 über 300.000 Anträge auf Jobwechsel von Arbeitsmigrant*innen bewilligt. Dennoch hat Amnesty International mehrere Fälle aus den letzten Monaten dokumentiert, in denen Arbeitgeber*innen ihre Machtposition über das Stornieren von Visa, die Erneuerung von Aufenthaltsgenehmigungen und das Anzeigen wegen „unerlaubten Verlassens des Arbeitsplatzes“ ausgenutzt haben, um diejenigen auszubeuten und zu bestrafen, die sich über die Arbeitsbedingungen beschwerten oder die ihren Job wechseln wollten.

Hintergrund

Teil der seit 2017 durchgeführten Reformen in Katar sind ein Gesetz zur Regulierung der Arbeitsbedingungen von Hausangestellten, ein Fonds zur Entschädigung bei Lohndiebstahl sowie die Einführung eines Mindestlohns. Katar hat außerdem zwei wichtige Menschrechtsverträge ratifiziert, allerdings ohne das Recht der Arbeitsmigrant*innen anzuerkennen, sich einer Gewerkschaft anschließen zu dürfen.

Die für die Planung und Durchführung der Weltmeisterschaft zuständige katarische Behörde, das Supreme Committee for Delivery and Legacy, hat ebenfalls verbesserte Arbeitsstandards für Arbeiter*innen eingeführt. Allerdings gelten diese nur auf WM-Schauplätzen wie Stadien und betreffen nur einen kleinen Anteil der insgesamt an WM-Projekten beteiligten Arbeiter*innen sowie darüber hinaus nur 2% der gesamtem Arbeitsbevölkerung Katars.

Amnesty erkennt die Wichtigkeit dieser Reformen an, stellt mit dem vorliegenden Kurzbericht jedoch einen Aktionsplan vor, um weiterhin vorhandene Missstände in zehn Bereichen anzugehen.

Im vergangenen Monat zeigte eine durch Amnesty International in Auftrag gegebene internationale Umfrage eine große Zustimmung unter den Befragten und Fußballfans für die Zahlung von Entschädigungen an Arbeitsmigrant*innen, die im Vorlauf der WM 2022 Menschenrechtsverletzungen erlitten haben.

Die Ergebnisse der Umfrage unterstützen die #PayUpFIFA-Kampagne, die im Mai von einem Zusammenschluss aus Menschenrechtsorganisationen – darunter Amnesty International –, Fangruppen und Gewerkschaften ins Leben gerufen wurde und in der die FIFA und die katarischen Behörden aufgefordert werden, einen Fonds zur Entschädigung der Arbeiter*innen einzurichten und künftige Menschenrechtsverstöße zu verhindern.

Für Rückfragen:
Presseteam Amnesty International Österreich
Antonio Prokscha
+43-664-621 10 31
E-Mail: presse@amnesty.at

Interviewmöglichkeit: Prof. Jomo Kwame Sundaram

Auf Einladung des VIDC und der ÖFSE kommt der ehemalige UN-Vizedirektor (DESA) nach Wien und wird über die aktuelle Hungerkrise und Möglichkeiten eines „Non-Alignment Movement 2.0“ sprechen.

Extreme Preisausschläge auf den globalen Rohstoff- und Energiebörsen, Dürren in weiten Teilen Afrikas, Versorgungsengpässe mit Getreide und Düngemitteln im Gefolge des Ukraine-Kriegs, und Versorgungsengpässe mit medizinischen Gütern während der Covid-19 Krise – die globalen Turbulenzen der jüngsten Vergangenheit sind besorgniserregend. Vor allem werfen sie die fundamentale Frage auf, wie die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern in Zukunft sichergestellt werden kann.

Sind Nahrungsmittel- und Energiebörsen nützliche Instrumente zur Koordinierung von Angebot und Nachfrage oder führen sie zu Preisinstabilitäten und tragen damit zu Versorgungsunsicherheiten in Europa und zu Armut und Hunger in den Ländern des Globalen Südens zu Armut und Hunger bei? Wie sieht eine ‚neue Weltwirtschaftsordnung‘ aus, wie sie von Vertreter*innen der Idee eines ‚Non-Alignment Movement 2.0‘ gefordert werden?

Interviews:
Freitag, 21.10.2022 | 10.00 bis 12.00 Uhr (pro Interview sind max. 30 Minuten vorgesehen)
ORT: ÖFSE | Sensengasse 3 | 1090 Wien | Lageplan
Sprache: Englisch
Terminvereinbarungen bitte an: h.grohs@oefse.at

Jomo Kwame Sundaram
ist ein bekannter malaysischer Ökonom. Von 2005 bis 2012 war er stellvertretender UN-Generalsekretär in der UN-Hauptabteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten (DESA). Heute ist er leitender Berater am Khazanah Research Institute, Visiting Fellow an der Initiative for Policy Dialogue der Columbia University und außerordentlicher Professor an der International Islamic University (IIUM).
https://www.ksjomo.org/

Prof. Sundaram hält im Rahmen der Veranstaltung „Food for all? – What it takes to secure global supplies with nutrition and basic needs“ 20.10.2022 auch einen Vortrag
Weiter Informationen finden Sie hier: https://www.oefse.at/veranstaltungen/veranstaltung/event/show/Event/food-for-all/

Veranstaltungseinladung zu ÖFSE Development Lecture 20: Food for all? What it takes to secure global supplies with nutrition and basic needs

Extreme price volatilities in global commodity and energy markets, droughts in large parts of Africa, supply shortages of grain and fertilizers in the wake of the Ukraine war, as well as in medical goods during the Covid-19 crisis: Global turbulences are increasing.

Above all, they raise the fundamental question of how essential goods can be secured for all. Are commodity and energy exchanges and other market mechanisms useful instruments for coordinating supply and demand? Or do they lead to price instabilities and thus contribute to supply insecurities in Europe and to hunger in the countries of the Global South? What does it actually take to secure future supplies with food and energy other basic goods against the backdrop of the climate crisis? Which national and international policies are needed?

International experts will take a critical look at how global commodity markets work and discuss political solutions needed to ensure the provision of essential basic goods – not only but particularly in the Global South.

Keynote Speaker
Jomo Kwame Sundaram (former United Nations assistant secretary-general for economic development in the United Nations Department of Economic and Social Affairs (DESA) during 2005–2012, senior adviser at the Khazanah Research Institute, visiting fellow at the Initiative for Policy Dialogue, Columbia University, and an adjunct professor at the International Islamic University (IIUM))

Comments
Sofía Monsalve Suárez (Secretary General of FIAN International) and Faith Lumonya (Economic Justice and Climate Action Programme Officer at Akina Mama wa Afrika in Kampala, Uganda)

20.10.2022, 17:00 – 19:00
C3 – Centre for International Development
Alois Wagner Saal, Sensengasse 3, 1090 Wien

Programme (pdf)
Registration: registration@oefse.at
More Information

Conference Language: English
Conference Format: Hybrid event (physical conference and Zoom/Facebook event)

PA: Konfliktminerale: Mustergültige bis fehlende Berichte österreichischer Unternehmen  

15 österreichische Unternehmen mussten erstmals Bericht zur Umsetzung der EU-Konfliktminerale-Verordnung vorlegen. ÖFSE-Studie zeigt breites Spektrum in der Umsetzung. 

2017 verabschiedete die EU die Konfliktminerale-Verordnung (EU 2017/821). Sie verpflichtet Unternehmen, die eine bestimmte Mindestmenge an Tantal, Wolfram, Zinn oder Gold in die EU importieren, zur Berichtslegung. In den Berichten ist nachzuweisen, wie die Unternehmen dafür sorgen, durch ihre Rohstoffeinkäufe nicht zu Gewalt und Menschenrechtsverletzungen in Konfliktregionen beizutragen. Nach einer dreieinhalbjährigen Übergangszeit mussten die Unternehmen – darunter auch 15 österreichische – 2021 erstmals diese Sorgfaltspflichten umsetzen und bis Ende März 2022 Berichte über die gesetzten Schritte vorlegen. 

Die Österreichische Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE) hat diese Berichte im Auftrag der Dreikönigsaktion der Katholischen Jungschar analysiert und Interviews mit Vertreter*innen von unter die Verordnung fallenden Unternehmen und der zuständigen Behörde im Finanzministerium geführt.  

Die Analyse zeigt ein gemischtes Bild: Die Wolfram Bergbau und Hütten AG (WBH) kann als Vorreiterin gelten. Der Bericht des Unternehmens fiel sehr ausführlich aus und schildert u.a. auch den Umgang mit etwaig festgestellten Unregelmäßigkeiten in der Lieferkette. Eine Zusammenfassung der Berichte über externe Prüfungen (Audits) ist online verfügbar. Als einziges der interviewten Unternehmen wusste WBH genau über den Ursprung der von ihr importierten Rohstoffe Bescheid und inspiziert Minen auch vor Ort. WBH ist der einzige Verhüttungsbetrieb in Österreich, der „Konfliktminerale“ verarbeitet und baut in seiner Berichtslegung auf ein solides, mehrjähriges freiwilliges Engagement auf. 

Weitere Unternehmen haben Berichte veröffentlicht, die den Vorgaben der Verordnung zwar entsprechen, sie sind allerdings viel weniger ausführlich. Die Unternehmen Plansee SE, Treibacher Industrie AG und Tribotecc GmbH haben zusätzlich die zusammenfassenden Auditberichte online verfügbar gemacht. Alle anderen Unternehmen führen an, dass alle Zulieferfirmen über Audits verfügen.  

Zwei Unternehmen – CRONUS Industrial Solutions GmbH und IMR metal powder technologies GmbH – haben auf ihren Websites zwar Berichte veröffentlicht, nach einem Abgleich mit den Anforderungen der EU-Verordnung erscheint fraglich, ob die Behörde diese als ausreichend werten kann. Es wird z.B. nicht erwähnt, ob Lieferant*innen über Audits verfügen oder wie Sorgfaltspflichten im Managementsystem umgesetzt werden.

Als säumig müssen die drei Unternehmen Boehlerit GmbH,  Swarovski AG sowie voestalpine BÖHLER Edelstahl GmbH bezeichnet werden. Sie haben bis dato noch keine Berichte veröffentlicht.  

Die Studie der ÖFSE zeigt aber auch, dass die EU-Kommission deutlich im Verzug ist. Anders als in der Verordnung vorgesehen, hat sie bislang noch keine Branchen-Standards und entsprechende Kontrollsysteme anerkannt, die Unternehmen bei der Erfüllung ihrer Sorgfaltspflichten unterstützen könnten. Von besonderer Relevanz sind für einige österreichische Unternehmen die Responsible Minerals Initiative (RMI) bzw. die für Gold bedeutenden Standards der London Bullion Market Association (LBMA). Die Nicht-Anerkennung erzeugt in der Branche große Unsicherheit. Festzuhalten ist jedoch, dass die EU-Verordnung vorsieht, dass solche Standards nur eine Unterstützung darstellen, Unternehmen aber ihre Verantwortung nicht auslagern oder delegieren können.  

Die Studienautorin Karin Küblböck (ÖFSE) fordert klare Qualitätskriterien für Auditor*innen seitens der EU-Kommission: „Ein wesentlicher Teil der Umsetzung der Sorgfaltspflichten sind qualitativ hochwertige Audits der Unternehmen bzw. ihrer Lieferant*innen. Auditor*innen müssen deswegen umfassende Kompetenzen – auch in den Bereichen Menschenrechte und Konfliktursachen – aufweisen. Ohne klare Vorgaben von Seiten der EU und der nationalen Behörden besteht die Gefahr, dass ein neues lukratives Geschäftsfeld für Auditfirmen entsteht und bestehende Beschaffungspraktiken legitimiert werden, ohne die Situation der Bevölkerung in den Herkunftsländern der Rohstoffe zu verbessern.“

„In den sehr technisch-bürokratischen Vorgängen, die mit der Umsetzung der Konfliktminerale-Verordnung zu tun haben, darf eines nicht vergessen werden: Es geht um die Verhinderung von menschlichem Leid! Menschen werden tagtäglich bedroht, versklavt und verletzt“, erinnert Herbert Wasserbauer, Rohstoffe-Referent der Dreikönigsaktion. „Die Übergangsfrist war sehr großzügig bemessen. Umso dramatischer ist es, dass einige österreichische Unternehmen noch immer keine Berichte veröffentlicht haben. In der für nächstes Jahr auf europäischer Ebene anstehenden Überprüfung der Verordnung sollte darum auch über bislang fehlende Sanktionen verhandelt werden, damit der Druck auf Minimalist*innen und Verweiger*innen erhöht wird“, so Wasserbauer abschließend. 

Hintergrund:

Im Jahr 2017 wurde auf EU-Ebene nach zähen und langwierigen Verhandlungen eine Verordnung zu sogenannten Konfliktmineralen verabschiedet. Diese soll es bewaffneten Gruppen in Konfliktregionen erschweren, sich aus dem Abbau und Handel mit bestimmten Rohstoffen zu finanzieren und damit verbundene Menschenrechtsverletzungen verhindern helfen. Importeur*innen von Tantal, Wolfram, Zinn und Gold wurden Sorgfaltspflichten auferlegt, wenn sie bestimmte Mengenschwellen überschreiten. Seit dem 1. Januar 2021 sind die entsprechenden Bestimmungen in Kraft und die betroffenen Unternehmen müssen dafür sorgen, dass sie durch ihre Rohstoffeinkäufe nicht zu Konflikten und Menschenrechtsverletzungen beitragen und über ihre Bemühungen auch öffentlich berichten. In Österreich wurde mit einer Novelle des Mineralrohstoffgesetzes eine nationale Behörde geschaffen, welche die Umsetzung der Verordnung in Österreich kontrolliert. Diese war bis Juni 2022 im Bundesministerium für Landwirtschaft, Regionen und Tourismus (BMLRT) angesiedelt, seither im Bundesministerium für Finanzen (BMF). Eine im europäischen Vergleich mustergültige Transparenzbestimmung befugt die Behörde, die Liste von österreichischen Firmen, die im Vorjahr Tantal, Wolfram, Zinn oder Gold über einem bestimmten Grenzwert importierten, im Internet zu veröffentlichen. Entsprechend dieser Liste waren per 31.3.2022 fünfzehn Unternehmen verpflichtet, ihre Berichte zu veröffentlichen und an die Behörde abzuliefern.  

Die Dreikönigsaktion der Katholischen Jungschar ist Mitglied der ARBEITSGEMEINSCHAFT ROHSTOFFE (www.ag-rohstoffe.at), einem Bündnis österreichischer NGOs, das es sich zum Ziel gesetzt hat, negative Auswirkungen des Abbaus mineralischer Rohstoffe etwa für IT- und Hochtechnologie-Produkte durch deren Herstellung, Nutzung und Entsorgung zu verringern sowie gleichzeitig positive Ansätze eines nachhaltigeren Umgangs mit diesen Materialien politisch und gesellschaftlich voranzutreiben. Konkret heißt dies, nationale, europäische und internationale Rohstoffpolitik mitzugestalten und zu einem bewussteren gesellschaftlichen Umgang mit mineralischen Rohstoffen beizutragen. Die ARBEITSGEMEINSCHAFT ROHSTOFFE besteht aus der Dreikönigsaktion der Katholischen Jungschar, Finance & Trade Watch, Global 2000, Jane Goodall Institut – Austria, RepaNet, Netzwerk Soziale Verantwortung (NeSoVe), Südwind und weltumspannend arbeiten.  

Rückfragen:  
Isabella Wieser 
isabella.wieser@dka.at 
+43 676 880 11 1085 

PA: Myanmar: Facebook-Algorithmen haben Gewalt gegen Rohingya vorangetrieben

Die gefährlichen Algorithmen des Facebook-Inhabers Meta und dessen rücksichtslose Gewinnmaximierung haben wesentlich zu den Gräueltaten des myanmarischen Militärs gegen die ethnische Gruppe der Rohingya im Jahre 2017 beigetragen. Zu diesem Schluss kommt Amnesty International in einem heute veröffentlichten neuen Bericht.

Wien / London (29. September 2022). Der englischsprachige Bericht „The Social Atrocity: Meta and the right to remedy for the Rohingya“ zeigt, dass Meta wusste – oder zumindest hätte wissen müssen – dass die Algorithmen von Facebook die Verbreitung von gegen Rohingya gerichteten Beiträgen in Myanmar stark vorangetrieben haben. Trotz dieses Wissens blieb das Unternehmen untätig.

Die ethnische Gruppe der Rohingya ist eine mehrheitlich muslimische Minderheit, die vornehmlich im nördlichen Bundesstaat Rakhine lebt. Im August 2017 flohen mehr als 700.000 Rohingya aus Rakhine, als myanmarische Sicherheitskräfte in einer gezielten und großangelegten Offensive systematisch Angehörige der Minderheit töteten, vergewaltigten und ihre Häuser niederbrannten. Dieser Gewalt waren jahrzehntelange staatlich gestützte Diskriminierung, Strafverfolgungsmaßnahmen und Unterdrückung vorangegangen, die einem System der Apartheid gleichkommen.

Facebook: „Anti-Rohingya-Echokammer

Newsfeeds, Platzierungen, Empfehlungen und Gruppen-Funktionen werden bei Facebook durch ein interaktionsbasiertes Algorithmussystem gesteuert, durch das bestimmt wird, was auf der sozialen Plattform sichtbar ist. Meta profitiert davon, wenn Nutzer*innen möglichst lange auf der Plattform aktiv sind, da so mehr Gewinn aus personalisierten Werbeanzeigen erzielt werden kann. Aufhetzerische Inhalte – darunter auch solche, die Hass verbreiten und zu Gewalt, Feindseligkeit und Diskriminierung anstiften – sind eine wirksame Möglichkeit, Menschen dazu zu bewegen, mehr Zeit auf Facebook zu verbringen. Das Bewerben und Weiterverbreiten solcher Inhalte ist daher von grundlegender Bedeutung für das Geschäftsmodell von Facebook. 

In den Monaten und Jahren vor dem gewaltsamen Vorgehen der Streitkräfte war Facebook in Myanmar zu einer Echokammer für gegen Rohingya gerichtete Inhalte geworden, heißt es in dem Bericht. Akteur*innen mit Verbindungen zum myanmarischen Militär und radikalen nationalistischen buddhistischen Gruppen fluteten das soziale Netzwerk mit anti-muslimischen Beiträgen. Sie verbreiteten Falschinformationen zu einer bevorstehenden Machtübernahme durch Muslim*innen und stellten die Angehörigen der Rohingya als „Eindringlinge“ dar.

Facebooks Untätigkeit

Der Bericht von Amnesty International stellt detailliert da, wie Meta es in Bezug auf seine Tätigkeiten in Myanmar immer wieder versäumt hat, seiner Verantwortung gemäß internationalen Standards nachzukommen und unternehmerische Sorgfaltspflichten im Hinblick auf die Menschenrechte umzusetzen.

Interne Untersuchungen aus dem Jahr 2012 legen nahe, dass Meta bewusst war, dass die eingesetzen Algorithmen zu schwerwiegenden Problemen in der realen Welt führen könnten. 2016 wurde im Rahmen eigener Recherchen in Bezug auf Extremismus eingeräumt, dass „unsere Empfehlungs-Systeme das Problem verstärken“.

Örtliche zivilgesellschaftliche Aktivist*innen haben sich zwischen 2012 und 2017 schriftlich und bei Besuchen mehrfach an Meta gewandt und davor gewarnt, dass das Unternehmen zu extremer Gewalt in der analogen Welt beitragen könnte. 2014 blockierten die myanmarischen Behörden kurzzeitig Facebook wegen der Rolle der Plattform bei einem Ausbruch ethnischer Gewalt in Mandalay. Meta ignorierte jedoch wiederholt die Warnungen und versäumte es zudem durchweg, seine Richtlinien zu Hate Speech anzuwenden. 

Forderung an Meta nach Entschädigungszahlungen

Mit der heutigen Veröffentlichung des Berichts startet Amnesty International eine Kampagne, mit der Meta Platforms, Inc. aufgefordert wird, den von Vertreter*innen der Rohingya gestellten Forderungen nach Entschädigung nachzukommen. Gruppen geflüchteter Rohingya fordern von Meta Gelder in Höhe von 1 Million USD für die Finanzierung eines Bildungsprojekts im Flüchtlingslager in Cox´s Bazar in Bangladesch. Diese Summe entspricht lediglich ca. 0,002 Prozent des 2021 von Meta erzielten Gewinns von 46,7 Milliarden USD. Im Februar 2021 lehnte Meta den Antrag ab mit der Begründung, „Facebook beteiligt sich nicht direkt an philanthropischen Aktivitäten.“

Derzeit werden mit mindestens drei verschiedenen Klagen Entschädigungen von Meta für die Rohingya gefordert. Im Dezember 2021 wurden sowohl in den USA als auch in Großbritannien zivilgerichtliche Verfahren gegen das Unternehmen eingeleitet. Jugendgruppen geflüchteter Rohingya haben zudem bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Klage gegen Meta eingereicht. Diese wird derzeit vor der Nationalen Kontaktstelle für die OECD-Leitsätze in den USA überprüft.

Die heutige Präsentation des Berichts signalisiert auch den ersten Jahrestag der Ermordung des bekannten Aktivisten Mohib Ullah, Vorsitzender der Organisation Arakan Rohingya Society for Peace and Human Rights. Mohib Ullah stand bei den Bemühungen der Rohingya-Gemeinschaft, Meta zur Verantwortung zu ziehen, in erster Reihe.

Presseteam Amnesty International Österreich
Eleonore Rudnay
+43-664-400 10 56
E-Mail: eleonore.rudnay@amnesty.at

Veranstaltung: Konferenz: Ist die Welt noch zu retten? Halbzeitbilanz der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030)


Seit dem Beschluss der SDGs sind nun bereits sieben Jahre vergangen – ebenso viel Zeit bleibt noch, um die Ziele bis 2030 zur erreichen. Doch hat sich die Welt bisher zum Positiven verändert? Welche Schritte wurden unternommen, um Armut, Hunger und Ungleichheit abzubauen und menschenwürdige Arbeit, Geschlechtergerechtigkeit, hochwertige Bildung, Frieden und Gerechtigkeit zu erreichen? Welche Auswirkungen hatte die Corona-Pandemie auf die globale Entwicklung? Was kann Österreich zur Erreichung der Ziele beitragen und welche Maßnahmen könnte die Gewerkschaftsbewegung ergreifen, um im Kampf für ein besseres Leben für alle Menschen dieser Welt erfolgreich zu sein?

Mittwoch, 28. September 2022
ab 11:00 Uhr: FAIRTRADE-Brunch
11:55 bis 15:30 UhrDiskussionsrunden mit musikalischer Umrahmung durch “Geschichten im Ernst”
ÖGB-CatamaranRIVERBOX (Johann-Böhm-Platz 1, 1020 Wien)
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