Im Kampf um die Vorherrschaft in Afghanistan wurden im ersten Halbjahr 2021 Tausende Zivilist*innen getötet. Die Taliban verübten vor dem Fall Kabuls diverse Kriegsverbrechen, doch auch das US-Militär und die afghanischen Streitkräfte waren für Angriffe verantwortlich, die zu großem Leid unter der Zivilbevölkerung führten. Dies geht aus einem neuen Bericht von Amnesty International hervor.
WIEN/LONDON, 15.12.2021 – Der Bericht No Escape: War Crimes and Civilian Harm During The Fall Of Afghanistan To The Taliban dokumentiert Folter, außergerichtliche Hinrichtungen und Tötungen durch die Taliban vor dem Sturz der afghanischen Regierung im August 2021. Er zeigt außerdem, dass es auch bei Boden- und Luftoperationen der afghanischen Streit- und Sicherheitskräfte und des US-Militärs (Afghan National Defense and Security Forces, ANDSF) zahlreiche zivile Opfer gab.
„Die Monate vor dem Zusammenbruch der Regierung in Kabul waren geprägt von zahlreichen Kriegsverbrechen und endlosem Blutvergießen durch die Taliban. Doch auch durch afghanische und US-Streitkräfte kamen Zivilpersonen zu Tode“, sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International. „Häuser, Krankenhäuser, Schulen und Geschäfte wurden zu Tatorten, an denen wiederholt Menschen verletzt oder getötet wurden.“
Nach Angaben der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) wurden im ersten Halbjahr 2021 insgesamt 1.659 Zivilpersonen getötet und 3.524 verletzt. Dies ist ein Anstieg von 47 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Taliban folterten gezielt Mitglieder ethnischer Minderheiten
Im aktuellen Bericht wird dokumentiert, wie Mitglieder der Taliban im Zuge ihrer fortschreitenden Offensive im Juli und August 2021 gezielt Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, ehemalige Soldaten der afghanischen Streitkräfte sowie Personen, die als Sympathisant*innen der Regierung galten, folterten und bei Vergeltungsanschlägen töteten. Am 6. September 2021 griffen Taliban-Kräfte die Stadt Bazarak in der Provinz Panjshir an und nahmen etwa 20 Männer gefangen. Sie wurden zwei Tage lang festgehalten, wobei sie zeitweise in einem Taubenschlag eingesperrt waren, wurden gefoltert, erhielten keine Nahrung, kein Wasser und keine medizinische Versorgung. Wiederholt wurde ihnen mit der Hinrichtung gedroht. Später am selben Tag griffen die Taliban auch das nahe gelegene Dorf Urmaz an, wo sie Hausdurchsuchungen durchführten, um Personen ausfindig zu machen, die verdächtigt wurden, für die ehemalige Regierung zu arbeiten. Die Taliban richteten innerhalb von 24 Stunden mindestens sechs zivile Männer außergerichtlich hin, hauptsächlich durch Schüsse in den Kopf, die Brust oder das Herz. Solche Tötungen stellen Kriegsverbrechen dar. Bereits in der Vergangenheit hat Amnesty International Massaker der Taliban an ethnischen Hazaras in den Provinzen Ghazni und Daykundi dokumentiert.
Zivile Opfer nach Luftangriffen und Bodenkämpfen durch afghanische Sicherheitskräfte und US-Militär
Der jüngste Bericht von Amnesty International dokumentiert auch vier Luftangriffe in den letzten Jahren, von denen drei höchstwahrscheinlich von US-Streitkräften und einer von der afghanischen Luftwaffe durchgeführt wurden. Bei den Angriffen wurden insgesamt 28 Zivilpersonen getötet (20 Erwachsene und acht Kinder) und sechs weitere verletzt. Sämtliche Angriffe hatten den Tod von Zivilpersonen zur Folge, da die USA ihre Bomben in dicht besiedelten Gebieten abwarfen. Amnesty International hat bereits in zahlreichen anderen Konflikten ähnliche Auswirkungen von schweren Sprengstoffwaffen dokumentiert und unterstützt die Eindämmung ihres Einsatzes auch auf politischer Ebene. Außerdem werden in dem Bericht acht Fälle von Bodenkämpfen dokumentiert, bei denen insgesamt zwölf Zivilpersonen getötet (sechs Erwachsene und sechs Kinder) und 15 weitere verletzt wurden. Aus Nachlässigkeit und unter Missachtung der Gesetze führten die von den USA ausgebildeten ANDSF-Kräfte häufig Mörserangriffe durch, bei denen Wohnhäuser beschädigt oder zerstört und auch Zivilpersonen getötet wurden, die sich dort versteckten. Der Einsatz von Mörsern, der in bewohnten Gebieten naturgemäß wahllos erfolgt, kann ein Kriegsverbrechen darstellen.
Ruf nach Aufarbeitung möglicher Kriegsverbrechen und Entschädigung für die Opfer
Amnesty appelliert in diesem Zusammenhang an den Internationalen Strafgerichtshof, die Ermittlungen zu US-amerikanischen und afghanischen Militäroperationen wieder aufzunehmen. „Der Strafgerichtshof muss allen Hinweisen zu möglichen Kriegsverbrechen nachgehen, egal zu wem sie führen“, so Callamard. „Die afghanische Bevölkerung hat zu lange gelitten. Die Opfer müssen jetzt Zugang zur Justiz erhalten und entschädigt werden.“
Mehrere Familienangehörige von Opfern militärischer Angriffe berichteten Amnesty International, dass sie von der Regierung bisher keine oder nur unzureichende Entschädigung erhalten hätten. Amnesty International fordert die Taliban und die US-Regierung auf, ihren internationalen Verpflichtungen nachzukommen und klare und stabile Mechanismen für die Beantragung von Wiedergutmachungsleistungen für Zivilpersonen einzurichten. „Die Taliban-Behörden haben nun die gleiche rechtliche Verpflichtung zur Wiedergutmachung wie die frühere Regierung. Sie müssen sich mit den Fragen im Zusammenhang mit der Schädigung der Zivilbevölkerung ernsthaft befassen“, sagte Agnès Callamard. „Die Betroffenen und ihre Familien müssen Entschädigungsleistungen erhalten, und alle, die für die begangenen Verbrechen als strafrechtlich verantwortlich gelten, müssen in fairen Verfahren und ohne Rückgriff auf die Todesstrafe vor reguläre Zivilgerichte gestellt werden.“
Hintergrund:
Amnesty International recherchierte vom 1. bis 15. August 2021 vor Ort in Kabul und führte von August bis November 2021 Interviews mit Opfern und Zeug*innen mittels sicherer Video- und Sprachanrufe. Insgesamt hat Amnesty International 65 Personen in Kabul persönlich befragt und weitere 36 Personen aus insgesamt zehn Provinzen über verschlüsselte mobile Anwendungen. Das Crisis Evidence Lab der Organisation überprüfte außerdem Satellitenbilder, Videos und Fotos sowie medizinische und ballistische Informationen und befragte einschlägige Expert*innen.
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Presseteam Amnesty International Österreich
Mag. Eleonore Rudnay
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